Sieht man die Bilder deutscher Nachrichtensendungen, liest man den täglichen Mainstream, kommt man, in der Zusammenfassung der Medienmeinung zum neuen Nahostkrieg, auf die klammernde Schlagzeile des neuesten SPIEGEL: "Israels Feldzug gegen den Terror". Eine Kurzfassung der besonderen Art. Bilder lügen natürlich nicht: Auf dem heutigen SPIEGEL-Titel ist ein Israelisches Haus mit Raketeneinschlägen zu sehen, das Schicksal der Israelischen Opfer nimmt in den allfälligen TV-Sendungen einen weitaus größeren Raum ein, als jenes der von israelischen Militärschlägen betroffenen Araber. Fachgerecht blendet der tägliche Nachrichtenwahnsinn die jüngeren Ursachen des aktuellen Nahostkrieges aus.

Ende Juni entführte eine Hamas-Gruppierung einen Israelischen Soldaten. Daraufhin marschierte die israelische Armee mit Panzern und Raketen in palästinensisches Gebiet ein. Der entführte Soldat ist bis heute nicht befreit, die Kollateralschäden unter der palästinensischen Bevölkerung wurden nicht gezählt. Kaum einen Monat später wurden zwei weitere israelische Soldaten von Hisbollah-Milizen entführt. Danach bombte Israel systematisch den Libanon. Daraufhin beschießen die Hisbollah-Milizen mit Raketen israelisches Territorium. Von den Entführten redet keiner mehr. Der israelische Historiker Dan Diner erklärt die Überreaktion so: "Es (Israel) spielt gleichsam verrückt - mit dem Ergebnis gesteigerter Abschreckungsfähigkeit." Der Auftritt als verrückter Abschrecker ist überzeugend gelungen.

Das Langzeitgedächtnis deutscher Medien gestaltet sich noch komplizierter. Denn manchmal erscheint es dem Leser oder Zuschauer so, als seien die Palästinenser und andere Araber im Nahostkonflikt Aliens, fremde Räuber, die sich irregulär auf israelischem Land herumtreiben. Das war natürlich, bis zur Gründung des Staates Israel 1948, ganz anders. Die rund 600 000 jüdischen Einwohner Palästinas machten etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Palästinas aus. Die anderen, Überraschung, waren im wesentlichen Palästinenser. Die nahezu komplette Ausblendung dieser Wurzel der Nahostgeschichte seit Ende des zweiten Weltkrieges ist der deutschen Beteiligung an der israelischen Gründungsgeschichte zu verdanken: Erst der millionenfache Mord an den europäischen Juden bewegte die Völkergemeinde, die Gründung des Staates Israel auf die Tagesordnung zu setzen. Und da wir mit diesem Erbe, das man nicht ausschlagen kann, leben müssen, suchen viele Deutsche nach Vermeidungsstrategien, um ihrer eigenen Geschichte zu entkommen.

Glaubt man der mündlichen Überlieferung, dann hat irgendeiner in nahezu jeder deutschen Familie mal einen Juden vor den Nazis versteckt. Natürlich gab es diese "Gerechten", aber sie waren eine verschwindend geringe Minderheit. Ein anderer Trick ist der jüdische Verwandte, den man irgendwo, im dritten Glied der Familie hatte, somit ist man eigentlich auch irgendwie ein Opfer. Geht man diesen angeblichen Verwandten auf den Grund, verschwinden sie im Nebel familiärer Mythen. Aber der größte Trick, die allgemeine Lebenslüge der deutschen Gesellschaft ist der Philosemitismus, in dessen Konsequenz alle Juden gut sind und alles was Israel tut geheiligt. Mit dieser ideologischen Haltung, vom Springer Verlag mit seinem "besonderen Verhältnis zu Israel" sogar in seine Statuten gegossen, müssen wir also gar nicht über uns und unsere Vergangenheit nachdenken. Die Vernichtung der europäischen Juden, so nimmt der durhschnittliche Philosemit an, verbüße ich durch den Kotau vor Israel.

Warum ausgerechnet die Araber, die sich vor der Gründung Israels, gemessen an der Zahl der Pogrome in Polen oder Russland, oder gar verglichen mit dem Holocaust, keiner herausragender Verbrechen gegen die Juden schuldig gemacht haben, für die industriellen Untaten der Deutschen haftbar gemacht wurden, kann niemand erklären. Sie waren halt gerade dort, wo der organisierte Zionismus den gelobten Staat gründen wollte. Micha Brumlik, ehemaliger Leiter des "Fritz Bauer Institut", dem Zentrum zu Erforschung des Holocausts, berichtet in seinem Buch über Vertreibungen von Massakern, Morden, vom Landraub und von Vergewaltigungen israelischer Milizen wie der "Hagana", verübt an der arabischen Bevölkerung. Die damit beabsichtigte ethnische Säuberung gelang: 800 000 Palästinenser flohen vor dem israelischen Furor in die arabischen Nachbarländer. Eine Rückkehr wurde ihnen verweigert. Der damalige israelische Landwirtschaftsminister Zisling schrieb angesichts der Grausamkeiten bedrückt: "Das ist etwas, das den Charakter der Nation bestimmt; Juden haben ebenfalls Naziverbrechen begangen".

Die Geschichte hat den Fakt Israel geschaffen und dieses Faktum zu revidieren, wie manche arabische Politiker wünschen, würde nur unermessliches, neues Leid gebären und die Juden jener offenkundig historisch und bis heute notwendigen Fluchtburg berauben, die ihnen die internationale Staatengemeinschaft Ende der 40er Jahre zugestanden hatte. Aber während Israel, unter dem Eindruck der monströsen Naziverbrechen von Beginn an finanziell, wirtschaftlich und intellektuell aus dem Westen unterstützt wurde, bekamen die Palästinenser weniger als nichts. Sie wurden zu Bettlern, gedemütigt und nur geduldet und sind sie es geblieben. Bis heute alimentieren die USA den Staat Israel, Milliarden Dollar fließen jährlich in die israelische Wirtschaft und das Militär, und wo jeder beliebige andere Staat mit der Waffengewalt der USA bedroht werden würde, darf Israel unbehelligt seine Atombombe bauen. Der Staat ist längst über den ursprünglichen zionistischen Denkansatz der Schaffung eines jüdischen Refugiums hinaus, er ist zum Knüppel des Westens gegenüber unbotmässigen Öllieferanten im arabischen Raum geworden.

Als die Israelis 1967 ihren "Präventiv-Krieg" gegen Ägypten, Jordanien und Syrien führten, jubelte es in westdeutschen Medien. Das Schlagzeilenwort vom "Blitzkrieg", immer noch ein positiver Begriff aus der legendären Zeit, in der wir mal eben die Polen oder die Franzosen überfallen hatten, gab diesem Krieg die richtige deutsche Würze. Der Philosemitismus überschlug sich, wir waren auf der Siegerseite und, Schlagzeile um Schlagzeile, scheinbar unserer schrecklichen Vergangenheit ledig. Sicher, die arabischen Länder hatten damals, unter Führung des ägyptischen Präsidenten Nasser, an der israelischen Grenze jede Menge Truppen zusammengezogen und bedrohten den Judenstaat. Aber wie immer hat die Geschichte eine Vorgeschichte: Etwa zehn Jahre zuvor reklamierte der junge ägyptische Nationalstaat den Suezkanal, der auf seinem Gebiet lag, als sein Eigentum. Die Engländer und Franzosen, die die Mehrheit der Aktien an der Kanalgesellschaft hielten, setzten Bomber und Fallschirmjäger ein, um weiter am Kanal verdienen zu können. Der aktive Helfer dieser völkerrechtswidrigen Invasion war die israelische Armee.

Seit Jahrzehnten fallen dem Staat Israel - Ausnahmen bestätigen die Regel - primär militärische Antworten auf die Fragen seiner Existenzsicherung ein. Niemand kann behaupten, dass die Sicherheit Israels in diesen Jahren gewachsen wäre. Im Gegenteil: Die rund um Israel lebenden Nachbarn wurden im Verlaufe dieses Prozess ärmer, wurden vom Westen gedemütigt und damit instabiler. Die Bereitschaft ihrer Bewohner zu Mitteln des Terrors zu greifen ist gewachsen. Und die neuesten israelischen Antworten sind die alten. Auch deshalb ist der im Westen vorherrschende Philosemitismus der Zwilling des Antisemitismus: Er löst die Probleme nicht, er verschärft sie durch einseitige Parteinahme.