Anlässlich der Brecht-Tage in Augsburg hielt der Schriftsteller Daniel Kehlmann (Die Vermessung der Welt) die Eröffnungsrede. Sie wurde in der "Süddeutschen Zeitung" abgedruckt. Der Bundestagsabgeordnete Dr. Diether Dehm setzt sich mit dieser Rede auseinander.
Großartiges fände sich „sowohl beim frühen Anarchisten… als auch beim späten religiösen Brecht.“ (Den Hinweis, welcher Religion sich Brecht so heimlich wie spät angeschlossen habe, verschweigt uns der Behauptung-Aufsteller allerdings.) Zwischen die Lichter - also dieser beiden Brechts - eröffnet Kehlmann dann das Feuer. Konzentrisch, damit die „Marie A.“ nicht beschädigt würde. Denn – welch feuilletongeschichtlich bahnbrechende Redundanz: „Kranich und Wolke … gehören zum Besten, was je in unserer Sprache geschrieben wurde“. Umso vernichtender aber sollen dann - in langer Linie der sich Kunstkritiker nennenden Kapital-huldigenden Kulturzerstörer seit der Bücherverbrennung - die Feuerstösse auf den vierzigjährigen Emigranten sein, als „Vertreter politischer Gewalt“, den angeblichen Verfasser von „Ergebenheitsadressen an Ulbricht, der zuverlässig … mit Lobliedern auf den Diktator… Höllenstaat,… Konzentrationslager Sowjetunion … bei denen stand, die die Maschinengewehre hatten…“.
Die Liquidierungsansätze gegen den Marxisten Brecht haben sich seit dem Adenauerstaat nicht sonderlich innoviert. Bestenfalls klingen die Sprachsalven bei Kehlmann cooler, heute in der Tageszeitung Bayerns, wo jene Partei um 49% herumschwächelt, die bislang meisterhaft, wie andernorts islamistische Marketingkünstler, bei fundamental-katholischer Begleitblasmusik ihren Rüstungskonzernen und Tornadoteil-Lieferanten ein unchristlich-neoliberales Eldorado serviert hat und sich besonders unverbrüchlicher Treue zum Massenmörder Bush rühmt.
Eine Linke, die sich in aller Öffentlichkeit auf Brecht beruft, droht - mittlerweile sogar weitgehend unbelächelt - mit über 5%. Jener CSU, die von Ministerien über Landesbank sämtliche Fördergelder, Billigkredite, Steuer-Schonung allein kanalisierte. Die dürfte sich, auch finanziell, kaum gesperrt haben, als es heuer galt, Daniel Kehlmann, dem Jungstar aus der alten Mitte, die Eröffnung der diesjährigen Augsburger Brecht-Tage anzutragen.
Schon zu Beginn zitiert Kehlmann als das „bleibende Skandalon“ Brecht charakteristisch falsch: „Um über Untaten zu schweigen, musste er nicht über Bäume sprechen.“ Richtig aber lautet die Zeile aus den „Nachgeborenen“: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst.“
Nicht also von irgendwelchen Untaten war da bei Brecht die Rede! (Denn über Bäume hat er ansonsten ja feines Sprechen abgeliefert.) Sondern von diesen einzigartigen „so vielen Untaten“ in „solchen Zeiten“ vor der Befreiung. Bei der „Gnade der späten Geburt“ schwang davon zumindest noch eine Ahnung mit – jawohl, bei Kohl. Aber nicht bei Kehlmann. Der dankt nur noch wem-auch-immer für das Glück, „dass die Welt nicht so geworden ist, wie Bertolt Brecht sie sich gewünscht hat.“ Und nicht etwa dafür, was und wem er da entronnen ist. Und so auch kein Dank an die Armeen, die - Brechts Weltvorstellungen nahe - mit weit über 20 Millionen Opfern jene Freiheiten erstritten, die Kehlmann sein eigen wähnt.
In seinen guten Zeiten hat Biermann eine tragische Situation daran erkennbar gemacht, „dass du nur die Wahl zwischen zwei Fehlern hast“. Schliddert man da nur hinein wie bei Sophokles? Oder darf es dafür Pläne geben? Kehlmann denunziert eine Reihe Künstler, wie Brecht, Neruda, Sartre, als mit dem „kühlen Glanz… gut angezogener Auftragsmörder… Gegner von Demokratie und Freiheit, deren Argumente nur besser formuliert, aber nicht besser waren, als die des nächstbesten Stammtischkrakeelers“. Er hätte die Reihe noch um Feuchtwanger, Chaplin, Hemingway (ja selbst Thomas Mann, der viel mehr Brandbomben auf Deutschland forderte) und länger fortsetzen können. Die Zeiten, in denen es dritte Wege der Parteinahme zwischen den Sowjettruppen und der Hitlerarmee nur noch ins Privatissime der Innerlichkeit gab, ebnet er ein, wie er brutalstmöglich die Einebnung des marxistischen Aufklärers Brecht propagiert.
Ebenfalls ganz und gar nicht verstehbar präsentiert Kehlmann in Augsburg die Frage, warum im Vergleich zu „Vertretern politischer Gewalt… bis heute sowenig Glorie darin steckt, Anhänger der Demokratie zu sein.“ Brecht hatte hingegen stets um Nachsicht gebeten mit Gewalt, etwa des reissenden Flusses ob des ihn einengenden, Flussbetts – und dessen gewalttätigen Machern. Hätte sich Kehlmann den Lösungsversuchen von Welträtseln bei Brecht auch nur angemessen genähert, er hätte nicht derart vermessen denunziert; etwa den „Versschmied… der für die Anhänger des liberalen Parlamentarismus in der jungen Bundesrepublik Worte fand wie: „Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft/ zog das durch die deutsche Landschaft/ rülpste, kotzte, stank und schrie:/ FREIHEIT und DEMOCRACY.““
Ist es sowenig nachempfindbar, dass keine rechte Glorie aufkommen will, solange Parlamentarismus nur antipodisch ummantelt: die Globkes und andere Macher der Rassengesetze in der Bundesregierung, die ungebrochene Macht der deutschen Banken, die Hitler an die Macht finanzierten, Ausschwitz kreditierten, an ZyklonB sowie Bombenüberfällen profitierten? Und was könnte man eher den „Kitsch des Profikillers nennen“: das Erwähnen der wirtschaftlichen Profitiers des Hitler- wie Adenauerstaats? Oder deren Verschweigen durch Kehlmann?
Zu Beginn seines Vortrags skandaliert er Brecht, dem „Religionskrieg der Sowjetregierung gegen das eigene Volk“ beigestanden zu haben. Und zwar mit den dann zitierten folgenden vier Gedichtzeilen: „Josef Stalin sprach von Hirse/ zu Mitschurins Schülern, sprach von Dung und Dürrewind/ Und des Sowjetvolkes großer Ernteleiter/ nannt die Hirse ein verwildert Kind.“
„Berüchtigt“, schreibt Kehlmann, sei ihm dies und fügt hinzu als „Preisgedicht auf die antidarwinistischen Hochstapler Lyssenko und Mitschurin“. Brecht hätte sich heraushalten sollen, anstatt im Jahre 1952 einem Experiment, „das unzählige Hungertote forderte, eine Hymne zu widmen.“
Kehlmann hat für seine kühle Schrift über „die Vermessung der Welt“ viel Faktenliebe ausgepreist bekommen. Mitschurin allerdings verramscht Kehlmann gleich in einem Eimer mit (dem nach dem 20. Parteitag der KPdSU demaskierten Verbrecher) Lyssenko als “Hochstapler“. Mitschurin aber war bereits 1935 tot und hatte zuvor durch Kreuzung und Selektion frostresistente Obstsorten für weite Gebiete Russlands erst möglich gemacht, hätte also weniger Vermessenheit denn Faktenliebe verdient.
Auch Kehlmanns Behauptung, die Welt, die Brecht sich gewünscht habe, würde keine demokratischen Wahlen, Meinungs- und Reisefreiheit kennen, ist mit nichts zu belegen. Und der Auftragsredner versucht es auch gar nicht erst. Fest steht nur eines: die relevanten, jüngeren Ausbruchsversuche aus Ausplünderungssystemen und/ oder aus deren Kriegen wurden bislang stets von militärtechnisch überlegenen Kombattanten der gestürzten Diktaturen angefallen und an freier Entfaltung gehindert. Und so sind in der Deutungsstringenz die Aufstiegsumstände Stalins in den sowjetischen Drittweltländern nicht ablösbar von denen Hitlers in der alphabetisierten ersten Welt.
Wer will die französische Revolution, den Anfang unserer aller Demokratisierung, mit ihrem Massenterror, der Guillotine und ihrem Empereur Napoleon abschneiden von dem, was absolutistische Staatsterroristen in den Wald der französischen Arbeitssklaven und den der Kolonien zuvor jahrhunderte lang hineingeschrien hatten?
Sieht man nur die im Lichte? Und die im Dunkeln sieht man nicht? Den wutschnaubenden Fluss? Und nicht die Flussbett-Bauer?
Der jungen, allein gelassenen Sowjetunion war kaum ein Atemzug lang die Vertiefung demokratisch rechtsstaatlicher Zivilisierung gestattet. Lumumbas Kongo ebenso wenig wie Allendes Chile. Und ob die nächste US-Regierung die kriegerische Blockade gegen Kuba abschafft, die EU faire Beziehungen mit Bolivien und Venezuela eingehen wird, hängt auch ein wenig an Vorträgen wie denen von Kehlmann, aber zum Glück auch an der Linken.
Kehlmann meint, das Lenin-Requiem sei „lächerlich“ und er dürfe Brecht jede Strafmilderung absprechen, weil: dieser habe ja „die Natur Stalins gekannt“. In ganz Frankreich findet sich zwar keine Strasse nach Robespierre benannt, dafür aber Örtlichkeiten, die „Stalingrad“ heissen. Die Völker in den Zeiten „so vieler Untaten“ empfanden nicht die „Natur Stalins“, sondern unwillkürlich dialektisch die Zuspitzung einer Kräftekonstellation.
Aus einer solch tragischen Situation windet sich niemand durch Ausblendung von Dialektik: das Glück jedenfalls, (wobei ich nicht mal weiss, ob Kehlmann das als solches empfindet), hierzulande heute ein Grundgesetz mit Sozialstaatsgarantie, Streikrecht und Angriffskriegsverbot zu haben, ist auch dem Sieg des Stalinschen Militärs am Kursker Bogen (justament nachdem die meisten Militärbuchmacher auf die überlegene Wehrmacht gewettet hatten) zu danken - sowie auch Brecht. Und so gibt es heute auch eine legale Linke auf dem bayrischen Stimmzettel. Inclusive: links wieder und wieder schmerzhaft und frei die Verbrechen der Stalinschen Partei- und Militärführung zu diskutieren, damit für einen künftigen Ausbruch aus der Weltdiktatur der Finanzmärkte die demokratischen Ressourcen weiter ausgebaut werden.
Ach, und wenn wir dann noch in einer Volksabstimmung frei über eine EU-Verfassung abstimmen dürften, wären wir der Welt, die sich Brecht gewünscht hatte, auch ein wenig näher.
Kehlmann wundert sich, warum Auftragstäter von Staatsterroristen, „die sich Kompromissen verweigern“, solchen Beifall erhalten. Aber wundert er sich über die kompromisslosen Auftrags- wie Beifalls-Spender seines Vortrages von Augsburg?