Die DDR mag diese oder jene Eigenschaft gehabt haben, die ein Überleben verdient hätte. Davon erstmal nicht. Was keinesfalls hätte überleben dürfen, waren ihre Service-Sitten. Misstrauisch war der Blick des Personals, wenn einer etwas kaufen wollte. So, als müsse der sich erst ausweisen oder einen Antrag stellen. Ein gebelltes "ham-wir-nich" war der triumphierende Fanfarenstoß der obsiegenden Verkäuferin. Eine Gaststätte, zehn freie Plätze, ein hämischer Ober, der einen vielleicht "platzieren" konnte oder auch nicht - eher nicht: "Alles besetzt" lautete die Diktatur des Kellneriats, der Avantgarde des siegreichen Sozialismus. Die Abschaffung dieser Töne, dieser Unrechts-Sitten gehörten zu den wenigen Ergebnissen der deutschen Einheit, die den abgenutzten Begriff Revolution verdiente.
"Guten Tag, alle Mitarbeiter sind zur Zeit in einem Gespräch", flötet eine scheinbar freundliche Stimme durch den dünnen Draht des Telefons, solch eine Geflöte kann schon mal fünfzehn Minuten dauern und jede der geschlagenen Minuten kostet nicht nur Zeit sondern Geld. Denn der Kunde will ja etwas von dem großmächtigen Unternehmen, bei dem er gerade angerufen hat, er harrt aus bis ihm Antwort wird. Nun galt in den alten Tagen des rheinischen Kapitalismus, ein seltsames Wort: Der Kunde, so hieß es, sei ein König und häufig war er es auch. Im Ergebnis dessen, was völlig zu Unrecht als Globalisierung bezeichnet wird, sind die Verhältnisse heute genau umgekehrt: Der Kunde, der eine Auskunft haben will, möglicherweise einen lukrativen Vertrag abschließen oder sich vielleicht gar über eine mangelnde Leistung bei seiner Großmächtigkeit beschweren möchte, der Kunde zahlt erstmal Eintritt über die Telefongebühren.
Es soll Unternehmen geben, die leben schon lange nicht mehr von ihrem eigentlichen Angebot, ihr Profit legt in den tausenden von Anrufern, die tagaus, tagein mit ihren Zwangs-Telefongebühren die Kassen der Konzerne klingeln lassen. "Geben Sie ihre Kunden-Nummer an!" bellt es aus aus dem Telefon. "Wie, die haben Sie nicht, warum rufen Sie denn an?" Wie Blei legt sich die Unsicherheit auf die Synapsen des Kunden, warum nochmal hatte er angerufen? Richtig, er wollte etwas reklamieren. "Dann," verkündet die grausame Stimme aus dem Orbit der Telefonie, "dann müssen Sie unseren Reklamations-Service anrufen". Aufgelegt. Feuchten Fingers bedient der Kunde das Tastentelefon: "Wenn Sie die Drei wählen, wird Ihnen Rats zuteil, wählen Sie die dreiunddreissig, dann haben Sie ein Problem . . ." Der Kunde erreicht den Reklamations-Service. Es ist der falsche. Denn es gibt den technischen Reklamations-Service und den der Rechnung wegen: "Können Sie sich mal entscheiden, ich habe auch nicht den ganzen Tag Zeit!" grunzt es aus des Telefon.
Zeit ist vergangen, mit ihr die ersten dreissig Euro auch, doch endlich ist der richtige Service am anderen Ende: "Haben Sie den Stecker eingesteckt?" Die Frage hätte auch lauten können: Sind Sie schwachsinnig? Und ist auch so gemeint. Denn natürlich reklamieren nur komplette Idioten eine Funktionsstörung eines elektrischen Gerätes, wenn es gar nicht am Stromnetz hängt. "Dann machen Sie erstmal einen Reset, dann wird es schon gehen". Aber wohin? Weil der dritte Reset keine Ergebnisse zeitigt und der Kunde langsam von seiner Schuld überzeugt ist, kramt er seine Kunden-Nummer aus den Unterlagen und vertraut sie dem siebten Unternehmens-Mitarbeiter an, mit dem er heute sprechen darf. Der Tag geht zur Neige, das Geld des Kunden auch. "Wiederholen Sie die Kunden-Nummer!" - "Nein, wir haben Sie gar nicht." Aber, behauptet der völlig verschüchterte Kunde, aber ich zahle doch monatlich meine Gebühren. Das ficht den Service-Menschen nicht an: "Sie existieren nicht!"
Als Gregor Samsa, aus Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", in der Gestalt eines ekligen Ungeziefers erwachte, blieb ihm seine Existenz auch während der Verwandlung. Erst in einem längeren Prozess reifte in ihm die Erkenntnis, dass er nicht mehr erwünscht war. Er starb. In der Wirklichkeit des aktuellen Kapitalismus wird dem Kunden ein weitaus kürzerer Prozess gemacht: Aufgehängt. In den Call-Centren, den neuen Centren der anonymen Macht, muss die DDR überlebt haben. Es ist also nicht die Globalisierung und die Unverantwortlichkeit des vagabundierenden Kapitals, die uns polnische Anrufbeantworter mit hessischem Akzent und der Problemorientierung eines Panzers beschert haben. Es kann sich nur - vergleicht man den Ton und den geradezu honeckeristischen Unwillen, sich mit den Bedürfnissen unserer Menschen zu befassen - um die kalte, schleichende Übernahme des kundenorientierten Kapitalismus durch den kundenfeindlichen Sozialismus handeln. Dass die amtierende Kanzlerin FDJ-Sekretärin war, ist natürlich eine zufällige Koinzidenz.
In der DDR gab es eine, von den Westbesuchern viel belächelte, Einrichtung: Den sozialistischen Fahrscheinautomaten im Öffentlichen-Personen-Nahverkehr. Es war eher ein Halbautomat, der nicht selten mit einer Art Brechstange an der Seite in Bewegung gesetzt werden musste: 20 Pfennig dieses fadenscheinigen Aluminiumgeldes wurden in ein Fach einer Fächertrommel geworfen, die Brechstange bewegte die Trommel und der Fahrschein kam zum Vorschein. Kaum jemand kontrollierte diesen Vorgang. Man warf was ein oder auch nicht. Das Westlächeln galt dem absonderlichen Vertrauen, das der sozialistische Fahrbetrieb in seine Kunden setzte, auch dem geringen Preis und der vorsintflutlichen Technik. Aber über Absonderlichkeiten der DDR, die ruhig hätten überleben können, sollte nicht geschrieben werden.