Der Kinofilm "Ein ganz gewöhnlicher Jude" ist ein ganz außergewöhnlicher Film. Der Schauspieler Ben Becker läßt den Zuschauer über 90 Minuten nicht los: Mit Wut und Zorn, mit Inbrunst und Selbstironie, aber auch mit grüblerischer Nachdenklichkeit und immer wieder durchschimmernder Zartheit schafft er es, ein Kinostück, das man zunächst für einen "Radio-Film" halten und mit dieser abschätzigen Einordnung als langweilig abtun könnte, zu einem sehr beeindruckenden Erlebnis mit nachhaltiger Wirkung zu machen.

In diesem Ein-Personen-Film gibt der blonde und meist so burschikose Ben Becker den Journalisten Emanuel Goldfarb, zuständig für Kultur, den über die jüdische Gemeinde Hamburgs der Brief eines ihm unbekannten Lehrers, namens Gebhardt, erreicht. Dieser bittet Goldfarb darum in seinem Sozialkundeunterricht "als authentischer jüdischer Mitbürger" einige Schülerfragen zu beantworten. Schon diese vorsichtige Wortwahl "jüdischer Mitbürger" regt Emanuel Goldfarb auf. Immer dieses vermeintliche Political-Correct-Verhalten! Warum kann dieser Lehrer nicht einfach das Wort "Jude" sagen? Und dann dieser Gruß am Schluß des Briefes "Mit einem herzlichen Schalom". Goldfarb quält dieser anbiedernde Ton, der in seinen Ohren so falsch klingt.

Der 1959 in Deutschland geborene Jude Goldfarb will nicht vor Schülern stehen und seine Geschichte erzählen. Er stellt sich mögliche Unterrichtssituationen vor: "Was soll ich für ein Gesicht dabei machen?" - Ben Becker übertreibt bei diesen Worten mimisch ganz wunderbar. - "Freundlich lächelnd? So? Oder besser so? Die Last von viertausend Jahren Geschichte auf meinen Schultern? Oder lieber so, dass man die Nase besser sieht? ... So sieht er aus, der Jude. Der Israelit. Der Hebräer."

Der Journalist setzt sich an seine betagte IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine (obgleich er einen Laptop besitzt) und beginnt eine knappe Absage zu formulieren, die sich aber zu einem überraschenden Dialog zwischen ihm und seinem Gegner entwickelt, diesem unbekannten Lehrer, den er sich als weltverbesserungs-wiedergutmachungswilligen "Altachtundsechziger" vorstellt.

Für Emanuel Goldfarb wird Gebhardt immer mehr zur Projektionsfigur für Deutschland und die Deutschen mit ihrer "ekelhaften Einfühlsamkeit." Und dennoch taucht Goldfarb auf Grund des Ansinnens dieses Lehrers immer tiefer in seine persönliche Geschichte, in die seiner vernichteten Groß-Familie und die seiner ins Land der Täter zurückgekehrten Eltern ein. Eigentlich gegen seinen Willen erinnert er sich auch an seine große Liebe zu einer Nicht-Jüdin, mit der er einen Sohn hat, an seine Ehe, die an der Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Lebensentwürfe scheiterte.

"Überempfindlich? Natürlich bin ich überempfindlich! Ich habe eine zu dünne Haut. Nicht vom Angegriffen-Werden. Das tut zwar manchmal weh, aber es macht auch Hornhaut. Es trainiert. Die dünne Haut kommt von den Samthandschuhen, mit denen man ständig angegriffen wird. Von diesem permanenten ranschmeißerischen Verständnis... Ich will die Sonderrolle nicht haben. Nicht im Schlechten und nicht im Guten. Ein ganz gewöhnlicher Mensch möchte ich sein. Ein ganz gewöhnlicher Jude."

Der Regisseur des Films ist Oliver Hirschbiegel, und wer jüngst seinen Film "Der Untergang" gesehen hat, hat bei diesem Film das Gefühl des Durch-Atmen-Könnens trotz aller Belastung durch die Geschichte und trotz der Beschimpfung als Publikum. Man ertappt sich selbst bei der Samthandschuhstrategie und man lernt mit Schrecken, dass man mit "den jüdischen Mitbürgern" ruhig etwas weniger vermeintlich political correct, etwas weniger rigoros, dafür aber direkter, lockerer und natürlicher umgegen darf.

Hirschbiegel wurde 1959 in Hamburg geboren. Ist also etwa so alt wie der ebenfalls im Nachkriegsdeutschland geborene Emanuel Goldfarb, diese so (im doppelten Wortsinn) un-verschämte und von Ben Becker so mitreißend gespielte Filmfigur. Zusammen mit dem Schweizer Charles Lewinsky, dem Autor des Buches "Ein ganz gewöhnlicher Jude", entwickelte Hirschbiegel 2005 das Drehbuch und besetzte die heikle Rolle mit einem völlig gegen den Strich gebürsteten Schauspielertypus, dem Rabauken-Darsteller Ben Becker. Und genau das funktioniert so unerwartet glänzend. Am Ende des Films leistet sich Hirschbiegel dann noch einen kleinen "Widerhaken": Er läßt den Lehrer Gebhardt genauso aussehen wie man sich landläufig, aber unberechtigter Weise, den Protojuden vorstellt.

Peinlich wird einem auch durch diesen Film nochmals ins Bewußtsein gerufen, dass in Deutschland lebende oder sogar nach dem Krieg hier geborene Juden nicht für die Politik in Israel verantwortlich gemacht werden können und dass dieses Land auch nicht zwangsläufig ihre Heimat genannt werden kann. Dazu zitiert Emanuel Goldfarb den verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignaz Bubis. Als der von der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth eine Glückwunschkarte zu Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest erhielt, mit der sie ihm Frieden für sein Land wünschte, antwortete Bubis, er freue sich sehr über ihre Karte und schließe sich ihrem Wunsch nach Frieden gerne an. Allerdings könne er sich an den letzten Krieg in Hessen nicht erinnern und der hessisch-bayrische Krieg liege doch nun auch schon wieder viele Jahre zurück.

Diese ruhige Gelassenheit wünscht man auch Emanuel Goldfarb alias Ben Becker, wenn er es denn dann vielleicht doch schaffen sollte, vor der Hamburger Schulklasse seine Geschichte mit einem offenen Lächeln zu erzählen. Ob er es schafft, wird nicht verraten.