Köhlers Weihnachtspräsent für alle Deutschen war kurz und schmerzhaft schlicht: "Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, Anständigkeit und Redlichkeit im täglichen Umgang können uns wirklich nicht schaden", propagierte der Präsident und dann ließ er die Worthülsen knallen: Wir stehen vor schweren Aufgaben, haben eine handlungsfähige Regierung aus den beiden Volksparteien und "können nicht zaubern", erzählte uns der ehemalige Staatssekretär unter Finanzminister Weigel, bedachte uns mit mehreren, tiefgründigen Dackelblicken, um sich dann über die Christ-Vesper in der Dresdner Frauenkirche ebenso zu freuen wie darüber, dass wir einen deutschen Papst haben.
Ach du heilige Einfalt, mag mancher beim Lauschen der Rede gedacht haben und heilig passt ja zu Weihnachten. Aber spätestens, als der Präsident sich bei den Soldaten bedankte, "die fern der Heimat für Sicherheit und Frieden sorgen", da schimmerte dann doch eine gewisse Scheinheiligkeit durch den dünnen Vorhang von Versatzstücken. Wenn sich die Alten unter uns an die Kriegsweihnacht 1944 erinnert fühlten, darf man ihnen das nicht übel nehmen, wir hatten einen richtigen, ordentlichen Krieg, waren dabei ihn zu verlieren und Propaganda tat not. Jetzt haben wir nur den Krieg gegen den Terrorismus, aber den gewinnen wir ganz bald und dann kommen unsere Soldaten aus den diversen Ländern, in denen sie "für Frieden und Sicherheit sorgen" zurück und alle geben allen einen aus.
Seit Guantanamo, dem US-Gefängnis für Terror-Verdächtige außerhalb der Zivilisation, außerhalb des Rechts, ist die Anständigkeit der Demokratie arg beschädigt: Da sitzen Leute jahrelang, ohne rechtliche Grundlage, ohne Anklage, ohne Verfahren. Nehmen wir doch einmal an, alle dorthin Verbrachten seien üble Terroristen: Wo ist der große, öffentliche Prozess, die messerscharfe Beweisführung und das gerechte Urteil, das nicht nur den Inhaftierten und ihren Familien Klarheit brächte, sondern auch der Weltöffentlichkeit ein Aufatmen. Endlich wäre die internationale Redlichkeit gerettet und die demokratischen Länder dürften wieder als Beispiel gelten.
Aber in Guantanamo rührt sich nichts, im Gegenteil: Das System Guantanamo breitet sich wie ein Krebsgeschwür über viele Länder aus und gibt den Feinden der Demokratie die besten Argumente in die Hand. Deutsche Behörden befragen mutmaßliche Terroristen in den Billig-Folter-Ländern, ohne den Anschein des Rechts. Ein deutscher Staatsbürger wird von der CIA entführt, ohne dass es den Innenminister rührt oder den Generalbundesanwalt zur Tätigkeit animiert und dessen Begründung ist von unheiliger Einfalt: Zwar handele es sich um Verschleppung, aber zu diesem Tatbestand sei der Bundesanwalt immer nur tätig geworden, wenn es sich um Agenten der DDR, also um ein totalitäres Regime gehandelt habe. Diesmal seien wahrscheinlich US-Stellen verwickelt, Verursacher sei also ein demokratisches Regime. Das macht für das Opfer natürlich einen riesigen Unterschied.
Mit dem jüngsten Beispiel, der getarnten Befragung einer Bosnierin, die mit einem Guantanamohäftling verheiratet ist, durch Bundeswehragenten, wird die von Köhler geforderte Ehrlichkeit einem Höhepunkt zugetrieben: Die Bundeswehr gibt sich ahnungslos, der Verteidigungsminister nimmt nicht Stellung und die Kanzlerin bereitet gerade ihre Neujahrsansprache vor. Da ist die neue Regierung "aus den beiden Volksparteien" genau so "handlungsfähig" wie die alte: Fast 300 CIA-Flüge von deutschem Territorium, Außenminister, Innenminister, Verteidigungsminister und Kanzler haben davon gewusst, aber sich nichts dabei gedacht. Und Verteidigungsminister Jung lässt sich im Golf von Aden Kriegsmarine-Kunststückchen vorführen und dienert vor Donald Rumsfeld in Washington. Die Frage, was wir denn am Horn von Afrika machen und in Afghanistan und anderswo, kommt ihm nicht.
Ein einziges Mal findet sich in der Köhler-Rede ein origineller Gedanke, und der ist nicht von ihm: "Man fliegt immer nur so weit wie man im Kopf schon ist", soll der Skispringer Jens Weißflog gesagt haben, recht hat er. Der Bundespräsident, der auch keine Fragen stellt, der gar nicht wissen will, was die Soldaten "fern der Heimat" machen, muss sich fragen lassen, wie weit er denn fliegen kann und wie es in seinem Kopf aussieht.