Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore
und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder;
die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen.
Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land
an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen,
ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen,
aber alles vergeblich.
Der Rattenfänger zu Hameln

Die Kinder sind verschwunden: Vor wenigen Jahren gab es sie noch, die Rechnung mit den Kindern. Vollmundig wurde sie von diesem oder jenem Politiker ins Feld geführt, wenn es um die Verschuldung ging. Man dürfe die künftigen Generationen nicht mit der Rückzahlung heutiger Schulden belasten. Der neue Bundeshaushalt sieht ungerührt 80 Milliarden Euro Neuverschuldung vor. Auch dürfe man, so hieß es vor Zeiten, seinen Kindern kein kaputtes Klima hinterlassen. Längst ist das Klima abgewrackt: Prämien wurden für neue, umweltbelastende Autos gezahlt. Nun also längere Laufzeiten für Atomkraftwerke.

Rund 250.000 Jahre wird das Abklingen der radioaktiver Strahlung - die der Müll von Atomanlagen mit sich bringt - auf ein ungefährliches Niveau brauchen. Bemisst man die Dauer einer Generation großzügig mit 40 Jahren, dann werden 6.250 Generationen Wartezeit gebraucht, während der Kinder und Kindeskinder den gefährlichen Müll der jetzigen Generation hüten dürfen. Auch weiß keiner, wo der Müll denn gelagert werden soll. Das irritiert die Regierung Merkel nicht: Bis zu 60 Jahren lang sollen die alten Reaktoren ihren Dienst an der Strahlung verrichten. Frau Merkel ist, wenn die AKW´s 2050 abgeschaltet sein sollten, 96 Jahre alt.

Brokdorf, Biblis, Brunsbüttel: "Höchste Priorität bei der Einordnung verschiedener Unternehmensziele," schreibt der AKW-Betreiber E.ON, hat der sichere Betrieb unserer Anlagen". Wie mag die Einordnung von drei Störfällen im E.ON-Kraftwerk Brokdorf in die Unternehmensziele gelungen sein? "Biblis? Ja sicher!", schreit der RWE-Konzern in seiner Broschüre den Leser an: Rund 500 Störfälle registrierten die Bürgerinitiativen gegen das hessische AKW, und 1987 schrammte der Betrieb knapp an der Kernschmelze, dem Super-Gau vorbei. "Ein nach westlichen Standards gebautes und genehmigtes Kernkraftwerk ist technisch so ausgelegt, dass bei allen Arten von Störfällen ein nennenswerter Schaden in der Umgebung der Anlage vermieden werden kann", erzählt das Energieunternehmen "Vattenfall" der Bevölkerung rund um das AKW Brunsbüttel. Fair wie der Konzern ist, weist er aber auch auf die Ausgabe von Jod-Tabletten im Katastrophenfall hin. Seit der schweren Wasserstoff-Explosion im Jahr 2001 reißen die Störfälle in Brunsbüttel nicht ab.

Jeder Tag, den ein abgeschriebenes Atomkraftwerk läuft, bringt dem Betreiber eine Million Euro. Im Aufsichtsrat von Vattenfall sitzt der SPD-Bundestagsabgeordnte Reinhard Schulz, Mitglied des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Technologie. Bei E.ON hält der CSU-Funktionär und frühere bayerische Finanzminister Dr. Georg Freiherr von Waldenfels als Aufsichtsratsmitglied die Verbindungen zur Politik. Der RWE-Konzern hält sich mit Wolfgang Schüssel gleich einen ehemaligen österreichischen Bundeskanzler als Aufsichtsrat und dazu noch einen Beirat, in dem es von Landräten und Oberbürgermeistern nur so wimmelt. Die FDP muss sich mit einem Beiratsposten des schwäbischen Energieunternehmens EnBW begnügen, besetzt den aber immerhin mit einem Ex-Außenminister: Klaus Kinkel.

Das Verschwinden der Kinder zu Hameln soll die Folge einer nicht bezahlten Rechnung gewesen sein: Dem Rattenfänger wurde der Lohn nicht ausbezahlt. Die Energie-Konzerne gehören zu den größten Parteispendern der letzten Jahre. - Manchmal sind die Effekte eben umgekehrt.