Ein lauer Wind weht über dem Meer, einen Geruch von Pinien trägt er mit sich. Kinderstimmen klingen von weit. Müde kräuselt das Meer sein Antlitz. Noch ein paar träge Schwimmzüge und dann zurück. Mitten in der Wendung ein scharfer Schmerz. Später am Strand sind brennende rote Schwellungen zu besichtigen. Die Täterin wurde nicht gesehen. Wie farbloser Pudding treibt sie durch das Wasser. Eher absichtslos berührt sie mit ihren Tentakeln ein Bein, eine Schulter. Verspritztes Gift lässt Menschenfleisch anschwellen. Die Qualle hat, ohne nachzudenken, ein von der Natur gewolltes Programm erfüllt. Sie ist nicht böse. Sie ist so, wie sie ist. Würde sie doch bellen, vorher, bevor man sie berührte oder sie einen berühren könnte. Würde sie die Mittagshitze doch mit einem warnenden Geräusch erfüllen. Man könnte ihr vielleicht entkommen. Die Gefährlichkeit der Qualle liegt also nicht alleine, vielleicht nicht einmal vorrangig, in ihrem Gift, sie liegt in ihrer Unscheinbarkeit, in ihrer ungeplanten Heimtücke.
Man ist verblüfft, wer alles Frau Merkels Politik zustimmt. Dass es die Mehrheit der Deutschen sein würde, wie die Umfragen sagen, ist kaum überraschend: Die Deutschen haben schon allen und allem Möglichen zugestimmt. Es ist die Anerkennung, die Frau Merkel bei Leuten findet, die man für durchweg gescheit gehalten hatte: Sie macht ihren Job doch nicht schlecht, sagt der Designer, der grün wählt und die CDU für eine fossile Partei hält. Wie die sich auf der internationalen Bühne bewegt, alle Achtung, kann man von der Gleichstellungsbeauftragten einer wichtigen Universität hören. Und der sehr elegante, sehr coole Sprecher einer Radio-Station, dem noch vor zwei Jahren die Merkel-Witze nur so von der Zunge geglitten sind, hält die wirtschaftliche Bilanz der Kanzlerin für Spitze. Der kluge Volker Schlöndorf, dem wir nicht wenige Filme zur wirklichen Wirklichkeit der Bundesrepublik verdanken, hat sich "für Angela Merkel eingesetzt. Es kommt immer auf die Person an."
Wer Frau Merkel vortragen hört, diesen freundlich hellen, relativ gleichförmigen Ton, der kaum Interpunktion kennt und die Sätze aneinander reiht wie Nadeln die Maschen, der kann sich beruhigt fühlen: Alles wird gut, das Land ist in Ordnung und seine Menschen sind auf dem richtigen Weg. Frau Merkel ist der erste Kanzler, der sich regelmäßig, über das Internet, mit einer knappen Video-Botschaft an die Wähler wendet. Dort erzeugt sie Töne, die nicht auf Pressekonferenzen oder in Parlamentsdebatten, im Spannungsfeld von Rede- und Gegenrede, entstehen. Diese höchstens drei Minuten währenden Botschaften enthalten das Merkel-Prinzip pur: "Morgen werde ich zu wichtigen Gesprächen nach Washington reisen" sagt sie im Vorfeld des EU-USA-Gipfels. Sie reist weit weg und es ist wichtig, liebe Kinder. Und obwohl der Gipfel vor dem Hintergrund schärfster Konkurrenz zwischen dem Wirtschaftsprotektionismus der USA und dem Versuch der EU sich dagegen zu behaupten stattfindet, wird nicht eines der Probleme erwähnt. Am Ende dankt sie ungenannten Unternehmen, die an der Harmonisierung der Wirtschaftsbeziehungen mitgearbeitet haben. Geht der Zuhörer klüger aus der Schnellpredigt hinaus, als er hinein gegangen ist? Nein. Aber beruhigter.
Denken könnte man, wenn die Kanzlerin die Internationale Automobil Ausstellung in Frankfurt besucht, dass sie Klarheiten über den CO-2-Ausstoß deutscher Automobile schafft. Der Kernsatz ihrer Rede beginnt "Ich werde gespannt sein" und endet mit "was die deutsche Automobilindustrie an neuen Umweltschutzmaßnahmen präsentieren kann." Sie wird gespannt sein, die Kanzlerin, sie lässt sich von dem überraschen, was die Industrie so kann. Aber da die Worte Umweltschutz und neu im Merkel-Video-Gruß vorkommen, kann man sicher sein dass. . . Oder vielleicht doch nicht. Gerne beginnt sie ihre Sätze mit "Ich glaube". Sie wirkt so praktisch, so zuverlässig, so glaubenswert. "Denn wenn woanders Kinderarbeit und Ausbeutung die Regel sind, dann können wir mit unseren sozialen Arbeitsbedingungen nicht mithalten", sagt sie zum Thema Markt und Globalisierung, und dieser Satz ist ein Meisterstück Merkelscher Rhetorik. "Woanders", das ist die ungenannte Ferne, in die natürlich nicht ein einziges deutsches Unternehmen seine Produktion verlagert hat, um deutsche Sozialstandards zu umgehen. Dass Kinderarmut und Ein-Euro-Jobs längst zur bundesdeutschen Wirklichkeit gehören, wer mag daran denken, wenn Angela Merkels journalistische Begleitmusik das langsame Verschwinden der Arbeitslosigkeit behauptet und den Aufschwung beschwört, wessen auch immer.
Es ist ein Klimawandel von Schröder zu Merkel: Wo der eine seine Ziele ziemlich offen benannt hat, betreibt die andere Treuherzigkeit mit der Tendenz zur Amnesie. Wo Schröder hektischen Aktionismus verbreitete, preist Merkel den Stillstand als fortschreitende Harmonie. Wenn der SPD-Kanzler ein schlaues Grinsen aufsetzte, hinter dem sich gern ein Trick verbarg, kräuseln sich die Lippen der CDU-Chefin in stiller Harmlosigkeit. Dass ihr seit Anfang diesen Jahres keine Video-Botschaft zu Afghanistan eingefallen ist, kann nur Zufall sein. Sie repräsentiert die Natur des Systems, sie ist nicht böse. Merkel ist echt. Und sie bellt nicht.