Dem Russen ist nicht zu trauen. Das konnte der deutsche Soldat schon vor Stalingrad feststellen: Kaum war man tief in den russischen Raum eingedrungen, hatte weite Teile des Imperiums besetzt, da schlug der Iwan zurück. Heimtückisch. Dieses spätestens seit der Nazi-Zeit festgefügte Russland-Bild des deutschen Mainstreams konnte sich in der Westrepublik im Rahmen der atlantischen Partnerschaft gut halten und kontaminierte auch das vereinigte Deutschland. »Nicht unkritisch« sagt Außenminister Walter Steinmeier, vor Beginn seiner Russlandreise in einem Interview, dürfe man gegenüber den Russen sein. Aus der Diplomatensprache rückübersetzt heißt das: Werdet demokratisch und seid mit dem Polonium demnächst etwas vorsichtiger.
Düstere Kräfte walten im Kreml, sie nehmen Einfluss auf die Zusammensetzung einer deutschen Talk-Show, sie machen uns Vorschriften, wie wir sie behandeln sollen. Falls sie das tatsächlich gemacht haben - die arme Frau Christiansen dem Dunkel russischer Macht ausgesetzt, um optimale Bedingungen für ihren dort auftretenden Botschafter zu erreichen - dann sind die Russen doch dümmer als wir dachten. Denn Putin hätte die Dame nur zu sich einladen und ihr ein Exklusiv-Interview geben sollen, er hätte Frau Christiansen sicher so devot vorgefunden, wie der US-Präsident, mit dem sie schon vor Monaten erfolgreich die Parodie eines kritischen Interviews aufgeführt hat.
Wenn in Russland zur Zeit mafiöse Kreise die Wirtschaft bestimmen, wenn Russland nicht die Standards der parlamentarischen Demokratie erfüllt, dann muss man sich erinnern, dass der Versuch tatsächlich demokratischer Verhältnisse in Russland im Oktober 1993 unter dem Beifall des Westens niedergeschossen wurde. Boris Jelzin, damals russischer Präsident und auch bekannt als »Boris die Säufernase« befand sich im Privatisierungsrausch: Volksvermögen wurde zu Tiefstpreisen verramscht, Boris Freunde wurden immer reicher und das Volk immer ärmer. Da wagte das Parlament, die Jelzinschen Gesetze zu blockieren. Zar Boris löste verfassungswidrig das Parlament auf, aber die Abgeordneten wollten einfach nicht nach Hause gehen, sie besetzten das »Weiße Haus« genannte Parlamentsgebäude. Jelzin orderte Panzer, die beschossen das Haus mit Granaten. Erst nach 10 Stunden ergaben sich die Abgeordneten. Die rund 200 Toten haben keine Namen.
Die westliche Staatengemeinschaft applaudierte zwar nicht gerade, aber sie intervenierte auch nicht. Die Männerfreundschaft zwischen Kohl und Jelzin - damals hielt sich hartnäckig das Gerücht, sie würden sogar die Strickjacken tauschen blieb von der mörderischen Attacke auf das russische Parlament unberührt. Nach dem Sieg über die junge russische Demokratie installierte der Jelzin-Klan, unbelästigt von westlichen Einsprüchen, eine neue Verfassung, die als Grundlage für eine kaum eingeschränkte Präsidialmacht diente und so nebenbei auch zur Enteignung des russischen Volkes führte. Wer am Tag nur ordentlich Speichel leckte, der wurde am Abend schon mit einem längeren Stück Gas-Pipeline beschenkt, die natürlich bis dahin Staats- sprich Volkseigentum gewesen war. Der Kapitalismus siegte im Kernland des sozialistischen Experimentes und das - so erzählten die Medien, so lächelten die Herren des Westens, so raunten die apologetischen Wissenschaften das konnte doch nur gut sein.
Mindestens ein Viertel der Russen lebt unter der Armutsgrenze. Rentner zum Beispiel dürfen mit 45 Euro monatlich auskommen, das, so sagen Moskau-Kenner, ist eher die Hungergrenze. Es gibt andere Russen, die kaufen sich Fußballklubs oder Fabergé-Eier für ein paar Millionen. Der Lukoil-Chef, Wagit Alekperow, hat sich ein Mausoleum in Form des Tadsch Mahal errichten lassen, das rund 40 Millionen Dollar gekostet hat. Solche Russen können nicht undemokratisch sein, denn über die kann man ja in der »Gala« lesen. Oder in den außenpolitischen Seiten der sogenannten Qualitätspresse, wenn sie sich als politisches Rührstück eignen, wie der immer noch im Gefängnis einsitzende Michail Chodorkowski.
Schon im zarten Alter von 33 Jahren war Chodorkowski Milliardär und Vorstandvorsitzender des Ölkonzerns Jukos. Wie konnte der ehemalige Funktionär des sowjetischen Jugendverbandes »Komsomol« so schnell so reich werden? Erbschaft, Fleiß, Lotto? Natürlich nichts dergleichen, wer im Russland der frühen 90er Jahre über ausreichend Geld verfügte, um einen staatlichen Betrieb zu »privatisieren«, der hatte das Geld entweder auf dem Schwarzmarkt ergaunert oder den Betrieb schlicht geklaut. Das gilt natürlich für alle heutigen Millionäre, deren Vermögen in der Jelzin-Phase zusammengerafft wurde. Dass es Chodorkowski erwischt hat, der, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung fein bemerkte wegen »Steuerminimierung« angeklagt war, ist nur insofern ungerecht, als nicht ein paar Dutzend andere auch verurteilt worden sind. Der Fall des russischen Ex-Milliardärs eignet sich offenkundig, betrachtet man die deutsche Medienwirklichkeit, nur zum alten antirussischen Reflex: Der Kreml knechtet seine Bürger. So, wie die mediale Empörung über »russische Rohstoff-Machtpolitik« zu nichts anderem taugt, als den Tiefstand deutschen Journalismus zu beweinen. Oder hat sich in den selben Medien schon mal jemand darüber beschwert, dass die USA Machtpolitik mit ihrem Militärpotential machen oder die deutsche Regierung Außenpolitik mit ihrem wirtschaftlichen Exportpotential betreibt?
Wenn der deutsche Außenminister in diesen Tagen Russland besucht, dann tut er gut daran, sich vor Augen zu halten, dass auch und gerade die Bundesrepublik die Umwandlung der Sowjetunion in ein Sammelsurium kapitalistischer Staaten nach Kräften unterstützt hat. Dass es dabei ein wenig rau zu geht ist nur normal, das war in Manchester, Mitte des 18. Jahrhunderts, als dort der Kapitalismus entstand, auch nicht anders. Statt sich bei Putin über russische Demokratiemängel zu beschweren, sollte er lieber dessen Rat einholen, zum Beispiel darüber, wie man seine Truppen aus Afghanistan zurück holt. Da gibt es sicher Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches. Vielleicht erkundigt sich Steinmeier auch über Job-Aussichten: Sein ehemaliger Chef, Gerhard Schröder, ist ja schon bei »Gasprom« untergekommen und wer weiß, wie lange die Große Koalition noch hält.