Alles neu: Die SPD legt ein "Fortschrittsprogramm" vor, in dem das Wort "neu" allein auf dem Deckblatt neun mal vorkommt. Im Text stolpert man dann so häufig über die sozialdemokratischen Neuigkeiten, dass man sich an die Werbe-Slogans der 70er Jahre erinnert fühlt: Das neue Persil, das neue Sunil, die neue Blendax. Doch während des Volksliedgut weiß, dass der Mai alles neu macht, ist es bei der SPD ihre Lage als Oppositionspartei, die scheinbar neue Töne erklingen lassen. Die SPD-Wähler sollen sich am neuen Lied erfreuen: Vor allem jene, die in den letzten Jahren bei den Wahlen zu Hause geblieben sind oder sich der Linkspartei zugewandt haben, will das "Fortschrittsprogramm" erreichen. Wohin schreitet die SPD? Und wie weit fort ist sie von Ihren alten Positionen?

"In den letzten Jahrzehnten haben sich neoliberale und marktradikale Ideen überall auf der Welt verbreitet und die politische Praxis geprägt" steht auf den ersten Seiten des neuen SPD-Programms und man ist bereit zu nicken: Stimmt. Aber was bei der neuen SPD wie eine Naturgewalt klingt, die plötzlich und unerwartet über die Welt hereingebrochen ist, hat einen Namen und und ein Datum: Mit dem Schröder-Blair-Papier von 1999 begann die Transformation der SPD zur asozialen Partei und mit der rotgrünen Regierung begann die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, Kürzung der Sozialleistungen und die Deregulierung der Märkte. Ein kleiner Verweis auf die sozialdemokratische Verantwortung für den Neoliberalismus hätte den Glauben an eine wirklich neue SPD grundieren können.

Hätte können: "Geringe Löhne und niedrige Steuern führten nicht automatisch zu mehr Investitionen in Deutschland und Europa." ließ der SPD-Chef Gabriel an anderer Stelle schreiben und wer jetzt gedacht hatte, nun käme aber mal ein Bekenntnis zur Verantwortung für die von der Regierung Schröder-Fischer ausgelöste Politik des Lohndumpings und der Steuersenkungen, die den Reichen ein Segen war und den Sozialstaat demontierte, der irrt. Statt dessen trifft der Leser auf eine atemberaubende Formulierung: "Deutschland ist eine der flexibelsten Volkswirtschaften der Welt. Der Grund dafür liegt . . . auch an unseren differenzierten und atmenden Arbeitszeitsystemen." Was da in Wirklichkeit vor sich hinröchelt ist die von Kanzler Schröder und seinem Hartz 2002 eingeführte Ausweitung der Leiharbeit, die den Lohn der dort beschäftigten so weit nach unten flexibilisierte, dass nicht wenige dieser verliehenen Arbeiter immer noch Hartz IV beziehen müssen um zu existieren. Tatsächlich schafft es Gabriel auf keiner der gut 40 Programmseiten das Wort Hartz IV auch nur ein mal zu erwähnen.

Um die Glaubwürdigkeits-Lücke des SPD-Papiers zur Größe des Kraters von Nachterstedt aufzublähen findet man im Neu-Programm der alten SPD kein einziges Wort zur Rente mit 67. Einfach vergessen? Oder schlicht unterschlagen? Und wenn man dann, unter der Forderung nach einer europäischen "Finanzmarktarchitektur" die überfällige Finanztransaktionssteuer findet und sich freut, findet man kein Wort zu den gefährlich spekulativen Hedgefonds, die in 2004, unter dem Beifall fast aller Parteien mit Ausnahme der LINKEN (damals PDS), vom SPD-Finanzminister wieder zugelassen wurden. Das SPD-Papier hat generell die Neigung zur Vermeidung: Zwar will man den jetzigen Spitzensteuersatz auf 49 Prozent erhöhen, vermeidet aber zu erwähnen, dass es die SPD war, die den alten Satz von 53 Prozent auf 42 runtergewürgt hat.

Zwar weiß man im SPD-Papier "In keinem anderen Land gibt es einen so deutlichen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg der Kinder." Aber der Begriff "Dreigliedriges Schulsystem", der die Kinder aus den "besseren" Familien begünstigt und die aus den "schlechten" bestraft, kommt bei der SPD nicht vor. Auch die Erwähnung der unsäglichen Hauptschule, der Abschiebehaft für die Kinder des Prekariates, wird tunlichst vermieden. Das Wort "Studiengebühren" ist einfach nicht zu finden.

Dass man nach dem Thema "Afghanistan" bis zum Ende des Papiers vergeblich sucht, ist nur zu verständlich: Schließlich will die SPD auch dem nächsten und dem übernächsten Mandat zustimmen, der Verlängerung eines Krieges, der beim SPD-Bundesvorstand immer noch jämmerlich "Kampfeinsatz" heißt. Kein Fort-Schritt in Afghanistan. Die deutschen Truppen bleiben. Und in Wahrheit ist das "Fortschrittsprogramm" auch nicht neu: Manchmal kehrt es zu Positionen zurück, die man von der Vor-Schröder-SPD kannte, an andern Stellen repetiert es nur das Zeugs, dass man auch aus der "Reform"-Zeit kennt. Unsichtbar und doch überdeutlich steht über dem Programm: Ich bin in der Opposition, holt mich hier raus! Das wiederum wollen die Wähler vermeiden: Die aktuelle Umfrage sieht die SPD bei 25 Prozent.