Hinter den Kulissen der NATO-Tagung, hinter den Grinse-Bildern in Baden-Baden, ja hinter dem krampfhaften Grinsen selbst, der vorgetäuschten Einigkeit, brodelte es: Die NATO, das Fossil aus den Tagen des kalten Krieges, weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Wo ist der Feind, wurde gefragt, was ist die Aufgabe der NATO? Mehrfach schon wurden die Russen gebeten, ihre alte Rolle als solider Feind wieder aufzunehmen. Sogar China wurde, unter Verweis auf die alte, seit dem Opium-Krieg bewährte Feindschaft, angebettelt, mit dem Säbel zu rasseln oder wenigsten eine kleine Bombe zu werfen. Vergebens. Die NATO zweifelte an ihrer Rolle und suchte dringend neue Aufgaben.

Nun gibt es NATO-Spötter - leider zu vereinzelt und quer über die Welt verstreut, als dass man sie mit einem präventiven Erstschlag vernichten könnte - die raten dem Militärbündnis, es möge sich auflösen. Mitten in der ökonomischen Krise sollten all diese schönen Arbeitsplätze in Stäben und Hauptquartieren, in Büros und Kasernen vernichtet werden? Sollte die Welt wirklich auf Flaggenparaden und Drohgebärden, auf bunte Litzen und grüne Tarn-Netze, auf Überschallknall und Panzergrollen verzichten? Darin waren sich die Versammelten einig: Das alles will keiner abschaffen. Aber über den neuen Zweck wurde heftig gestritten.

Da gibt es auf der einen Seite die Fiskalisten, auch Oasen-Sturmtrupp genannt, die den bewährten NATO-Kampfeinheiten die Erstürmung von Steuerparadiesen zur neuen Aufgabe machen wollen. Sondereinheiten, so stellen sich die Fiskalisten vor, sollen zum Beispiel plötzlich über Andorra abgesetzt werden. "Fünfzig Mann", so merkte dieser Tage einer aus der Oasen-Fraktion an, "fünfzig Mann reichen völlig." Die 250 Andorra-Polizisten werden den NATO-Fallschirmjägern nichts entgegensetzen können. Und dann wird Briefkasten für Briefkasten abmontiert und auf bereitstehende Lastwagen geladen. Da können die dazu gehörenden Firmen dann lange suchen, wo sie künftig ihr Schwarzgeld unterbringen werden.

Die Steuerparadiese auf den britischen Kanalinseln Guernsey und Jersey werden mit jeweils einem U-Boot bedacht. Natürlich ist mit heftigem Widerstand der Kanoniere von St. Peter Port, der Hafenbefestigung der Hauptstadt von Guernsey, zu rechnen. Immerhin hat hier auch die Familie Flick, wie eine Reihe anderer, von den Steuerbehörden drangsalierten Flüchtlinge, ein Refugium für ihre Milliarden gefunden. Auch dass die englische Königin das Regierungsoberhaupt beider Inseln ist, wird Fragen aufwerfen: Kann eine NATO-Einheit ein NATO-Partner-Land überfallen, soll die Königin interniert oder wegen Finanzpiraterie sofort am nächsten Mast aufgehängt werden? Während die Franzosen für letzteres plädierten, sollen die Deutschen das Zumwinkel-Schloss als Exil für die Königin vorgeschlagen haben.

Doch während die Schweiz, Liechtenstein, die Cayman-Inseln, Mauritsius oder Monaco der NATO eher als Sparringspartner gelten dürften, ist das mit Delaware irgendwie anders. Auf die rund 800.000 Einwohner des idyllischen US-Bundesstaates entfallen 620.000 Briefkastenfirmen. Unternehmen wie Coca-Cola, General Motors, Google, Walt Disney Co., McDonald’s und was der US-Marken-Namen mehr sind, haben dort ihren Rechtssitz. Auch ausländische Firmen horten in Delaware fünf Billionen Dollar, die sie zu Hause an der Steuer vorbei gebracht haben. Zur Gründung einer Steuerspar-Firma reicht ein Anruf, der Besitzer bleibt anonym, die Registrierung kostet lächerliche 780 Dollar. Der Wahlspruch des Staates ist: Liberty and Independence. Und das ist auch so gemeint.

Doch schon das logistische Problem, 620 000 Briefkästen abzumontieren und zu verstauen, wäre den NATO-Truppen eine große Herausforderung. Dann ist da einer der größten US-Luftwaffenstützpunkte in der Nähe der Delaware-Haupstadt Dover. Nehmen wir mal an, der französische Flugzeugträger "Charles-de-Gaulle", zur Zeit im Indischen Ozean, fährt in die Delaware-Bucht ein. Wird seine 2000-Mann-Besatzung ausreichen, um Delaware zu besetzen? Und wenn sie den Jo Biden, Vizepräsident der USA, der aus Delaware stammt, antreffen, kommt er dann vor ein Standgericht oder darf er auch im Sitzen erschossen werden? Keiner der NATO-Strategen in Baden-Baden konnte oder mochte die Fragen beantworten.

Auch dieser Ratlosigkeit wegen bildete sich in Baden-Baden eine zweite Fraktion: Die Dekoristen. Die Dekoristen gehen davon aus, dass schmucke Uniformen, schmissige Musikcorps und bunte Flaggen zur Dekoration jeder Feier geeignet sind. Eine Hochzeit: Wer steht Spalier? Die Green-Berets. Eine Taufe: Wer hält den Säugling über das Wasser-Becken? Zwei Marines. So könnten Jubiläums-Feiern von Kleingärtnern oder Kegelvereinen zu neuen Aufgabenfeldern der NATO-Truppen werden. Warum immer mit der Kutsche zur Kirche, warum nicht mit dem Panzer? Und wenn Onkel Eduard Geburtstag hat, werden wir ihm endlich eine Staffel Düsenjäger im Formationsflug über sein Häuschen schicken können. "Rent-a-Soldier", so glauben die Dekoristen, ist ein tragfähiges ökonomisches Konzept für die Zukunft des Bündnis.

Doch während Fiskalisten und Dekoristen noch über ihre Alternativen streiten, sollen die Chinesen die günstige Gelegenheit begriffen haben: Sie wollen, gestützt auf ihre Devisenreserven, die NATO kaufen. Immerhin, so verlautete aus Peking, sollte die neue ökonomische Supermacht auch über ein entsprechendes militärisches Gewicht verfügen. Zwar sei die eigene "Volksbefreiungsarmee" nicht gerade klein, aber Bewaffnung und Ausbildungsstand entsprächen nicht den neuen Anforderungen und da sei es doch billiger, man kaufe eine Armee statt sie langwierig neu zu formieren. Allerdings soll es eine Bedingung geben: Die chinesische Regierung wolle die NATO nur übernehmen, wenn sie auch den neuen NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, bekäme. Seine erfolgreiche Minderheitenpolitik in Dänemark ließe sich, in großem Maßstab, in China gut fortsetzen. Die NATO-Länder warten auf ein Gebot.

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Seit längerem lese ich die RATIONALGALERIE. Manchmal amüsiere ich mich. Aber zuweilen lese ich auch Langeweile. Obwohl die meisten Texte recht ordentlich geschrieben sind, bleiben sie doch in einer vorgezeichneten Spur: Sie sind dagegen und im...

Seit längerem lese ich die RATIONALGALERIE. Manchmal amüsiere ich mich. Aber zuweilen lese ich auch Langeweile. Obwohl die meisten Texte recht ordentlich geschrieben sind, bleiben sie doch in einer vorgezeichneten Spur: Sie sind dagegen und im Dagegensein spitzen sie die beschriebene Lage (Haltung, Tat, Gesinnung) weiter zu.

Im jüngsten Text zu NATO ist das Muster sehr schön durchsichtig. Schon in der Einführung, als Sie der NATO Überflüssigkeit unterstellen, kommt der zugespitzte Satz: "Nun gibt es NATO-Spötter - leider zu vereinzelt und quer über die Welt verstreut, als dass man sie mit einem präventiven Erstschlag vernichten könnte - ".

In Wahrheit will niemand die Spötter umbringen. Nun ist die Übertreibung eine Form der Satire. Aber wohin treibt die Übertreibung? Zu zwei Grundmodellen: Die Umwandlung der NATO in eine Steuer-Eintreib-Truppe oder in eine Art Schützenverein, geeignet Feiertage zu umrahmen.

So geht, um ein möglichst abstruses Bild zu gewinnen, die reale Bedrohung durch die NATO verloren. Das ist, angesichts des aktuellen Afghanistan-Krieges und der möglichen folgenden, der Erkenntnis eher abträglich.

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Werner Schwarzenberg
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Ich kenne Medien, die schreiben über die Gefährlichkeit der NATO. Immer wieder. Die dauerhafte Wiederholung von Erkenntnis mag ein steter Tropfen sein, macht aber eher Löcher im Kopf. Solche Form von Hirnerweiterung ist nicht selten Hirnerweichung.

Uli Gellermann
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Köstlich: Die NATO als Trachtentruppe auf der Geburtstagstorte. Bitte mehr davon!

Renate Schwartau
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Mehr Torte gibt es nur bei Nachweis eines Geburtstages.

Uli Gellermann
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Was soll denn der Verweis auf Rasmussen und seine Minderheitenpolitik?

Gerd Hammesfahr
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Ramussen nacht eine repressive Ausländer (-Minderheiten) -Politik. Die Uiguren z. B. werden das über die chinsische Führung auch sagen.

Uli Gellermann
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Ihr Nato-Steuerszenario hat mich köstlich amüsiert. Aber das mit der Eroberung der Steueroase in Deleware wird nichts: Die steht gar nicht erst auf der Liste der G 8.

Peter Petersen
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Gott sei Dank. Ich sah schon den. 1. Steuerweltkrieg auf uns zu kommen.

Uli Gellermann
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