Liebe Lesergemeinde der RATIONALGALERIE!

Wir haben uns am heutigen Dritten Oktober vor dem Denkmal der Deutschen Einheit versammelt, um des Beitritts zu gedenken. Das vaterländische Monument zeigte, wie Sie alle aus den Sendungen Guido Kopps wissen, ursprünglich den Zusammenstoß eines Vehikels namens Trabant mit einem Kraftfahrwagen der Marke Mercedes, bevor es von einem Verhüllungskünstler in Zeitungspapier gewickelt wurde. Wir schauen mit Rührung und Respekt auf dieses wohlgelungene Werk unserer PolitikerInnen und erinnern uns.

Liebe Lesergemeinde!
Für meine Predigt gilt wie für alle Reden zum Dritten Oktober in besonderem Maße, was den Geschichtsbetrachtungen gemein ist: Sie sind eher Ausdruck einer Weltanschauung, nicht unbedingt ein Quell der Wahrheit. Die Weltanschauung erwirbt der Staatsbürger im Elternhaus, in der Schule, in den Medien. Die Wahrheit über die Wiedervereinigung wird erst nach dem Wegsterben aller Zeitzeugen aus der medialen Überlieferung extrahiert werden. Je nach dem Standpunkt des Betrachters kann sie so oder so ausfallen. Zurzeit werden in den Medien vor allem abstrakte Werte wie Freiheit und Demokratie, weniger messbare wie Wohlstand betrachtet. Nun ist aber Freiheit ohne Wohlstand nur sehr eingeschränkt möglich. Beispielsweise der Hartz-IV-Empfänger, der in Mecklenburg wohnt, kann es sich nicht leisten, zur Demo in die Hauptstadt zu fahren. Er hat keine Versammlungsfreiheit. Er hat auch keine Reisefreiheit, warum, das brauche ich hoffentlich niemand zu erklären. Dafür hat er meistens einen alten Fernseher und hat die Freiheit der Senderwahl. Das war übrigens eine Freiheit, die schon in der DDR hatte, wer nicht in Sachsen wohnte.

Liebe Lesergemeinde!
Die Freiheit haben sich die DDR-Bürger in der Wende selbst erstritten, es war die Freiheit zu sagen, was sie dachten. Heute ist man mitunter versucht zu glauben, die Redefreiheit wäre aus der Bundesrepublik importiert worden. Es war vielmehr der Wohlstand, der in Paketen aus der Bundesrepublik kam. Die DDR-Bürger waren durch das jahrzehntelange Eingesperrtsein sehr unwissend, obwohl sie jeden Abend die Tagesschau sahen. Sie dachten mehrheitlich, Demokratie sei wesentlich plebiszitär. Doch nach dem Beitritt sollte sich herausstellen, dass sie in eine "repräsentative“ Demokratie eingetreten waren.

Liebe Lesergemeinde!
Hier gestatten Sie mir bitte eine Abschweifung, um den Unterschied zu erklären. In der ausgereiften Form der repräsentativen Demokratie verspricht der Politiker dem Wahlvolk vor der Wahl gewisse Dinge, die meist irgendwie mit den Abgaben zu tun haben. Normalerweise sagt er: Mit mir (meiner Partei) wird es keine Steuererhöhungen geben. Nach der Wahl sind diese guten Vorsätze vergessen. Der Politiker hat einfach keine Zeit für sie, denn er muss als Lobbyist tätig werden, auf dem Sitz, auf den das Establishment ihn geparkt hat. Pünktlich vor der nächsten Wahl erinnert sich der Politiker und die guten Vorsätze werden wieder aufgewärmt. Der Altbundesbürger hat sich an diese Vorgehensweise gewöhnt. Er empfindet sie nicht als Betrug. Der Ostdeutsche kommt aus einer Diktatur. Diktaturen erkennt man unter anderem daran, dass meistens Wort gehalten wird, im Guten wie im Bösen. (Ich halte es hier für unnötig zu erwähnen, dass es in Diktaturen nichts Gutes gibt.) Ein Mensch, der so konditioniert ist, hat in der sozialen Marktwirtschaft nichts verloren. Er ist nicht einmal in der Lage, einen Gebrauchtwagen günstig zu kaufen.

Liebe Lesergemeinde!
Deshalb erfolgte auch nach der Einheit prompt eine Reeducation aller Ostdeutschen. Diese Umschulung vollzog sich durch die Medien. Der heutige Dritte Oktober ist der rechte Zeitpunkt, endlich einmal Dank zu sagen, und zwar im Besonderen Herrn Prof. Dr. Dr. Hubert Burda und Frau Dr. Maria Furtwängler-Burda, Herrn Prof. Guido Knopp und Frau Dr. Friede Springer. Diese Männer und Frauen haben uns zusammengeschweißt. Denn die Wiedervereinigung ist eine Sache, die Einheit in den Köpfen eine andere. Viele Ostdeutsche, durch jahrzehntelange kommunistische Propaganda irregeleitet, dachten nämlich, die Einheit würde in den Brieftaschen stattfinden! Andere, die vor langer Zeit vertrieben worden waren, hofften auf einen Lastenausgleich. Alle wollten hart arbeiten. Sie hatten sich getäuscht, aber das, liebe Lesergemeinde, sind nur Äußerlichkeiten, nur historische Episoden. Die Einheit der deutschen Geschichte kann uns keiner nehmen, und was das bedeutet, kann sich jeder denken.

Liebe Lesergemeinde!
Nun danket alle Gott und Gorbatschow.

Amen.