Wir werden diese Krise meistern!
Angela Merkel

Vor langer, langer Zeit kamen sie zusammen: Staatenlenker und Wirtschaftsführer, Hohepriester des Geldes und anderer Götter. Und ihr Sinn hieß Erlösung. Hoch über dem gemeinen Volk, in klarer Bergluft, mit weiten Sichten und unschuldigem Schnee, kamen sie, Jahr für Jahr, ihrer Pflicht nach: Den einfachen Menschen Halt und Führung zu geben, Hoffnung und Glauben. Ihre Herolde kündeten der ganzen Welt von ihrer Weisheit und Weitsicht. Kaum einer aus den Tälern wagte aufzublicken, wenn ihre Botschaften wie auf Schwingen durch den Äther rauschten und noch das letzte Papier knisternd von ihrem Wissen kündete: Tut so wie wir tuen, rieten sie. Bereichert Euch! Raubt das Gut Eurer Nachbarn, knechtet ihre Söhne und Töchter, schlagt denen aufs Maul, die anderen Sinnes sind. Jedermann wußte, dass die Weisen die Weisheit mit großen Löffeln gefressen hatten und deshalb mit Gewissheit sprechen konnten.

Diese Gewissheit lenkte die Schritte der gemeinen Menschen auf die Märkte . Wann immer sie, an allen Orten der Erde, den Markt betraten, den Platz der Gerechtigkeit und der Wahrheit, wurden Sie gewogen: Entsprach ihre Leistung ihrem Lohn? War die Kraft ihrer Hände und Hirne tauglich zur Verrichtung von Diensten? Denn die Lenker hatten verkündet, dass der Markt das Gesetz sei in Ewigkeit und nur die Besten den Gipfel erklimmen könnten. Wer aber unten blieb, dem war der Staub der Täler, dem war Hunger und Durst, Entbehrungen aller Art der Lohn für seine geringen Fähigkeiten. Demütig senkten die im Tal den Kopf: Ja sie wussten, dass sie dort, wo sie zurückblieben an ihrer Zurückgebliebenheit Schuld trugen. Dass es ihnen an Glauben mangelte, wenn der Markt sein Urteil gegen sie sprach.

Weit oben, so hörte man und sah es auch auf bunten Bildern, wartete der Lohn auf die Tüchtigen: Frauen von großer Schönheit und Jugend wurden für die Sieger des Wettbewerbs bereit gehalten und Schlösser, in denen einer der Besten allein in vierzig Zimmern hauste, getragen und behütet von wenigen Unteren, die in den Genuss seiner Anwesenheit kamen. Wein und Honig flossen aus den Wänden, alte Bäume in großer Zahl beschatteten die Ruhe der Erfolgreichen. Denn der Ruhe bedurften sie. An manchen Tagen reiste so ein Oberer Meilen um Meilen, um mit einem anderen aus der Wichtigkeit zu reden und darüber, wie man das Leben aller verbessern könne. Dann sprachen sie mit erzener Stimme ihre Urteile. Manche Völker müssten vom Erdboden verschwinden, andere sollten besser die Schätze ihrer Böden an sie übergeben, denn nur sie wüssten um den wahren Wert. Wer aber nicht dem Markt genüge tat, dem sei Elend gewiss.

Manchmal fragte sich dieser oder jener der Untrigkeit, warum er denn schon lange im Elend lebe, wo er doch alles verrichtete, wie der Markt es befahl. Doch die Schlaueren unter den Unteren wussten die Antwort: Das reiche noch nicht, sagten sie, ein wenig Elend mehr müsse schon sein, damit es dann später besser werde. Der Lohn für solche Weisheit konnte erkannt werden. Dieser oder jener aus der Schlauheit durfte auch den Berg ersteigen, manche bekamen Geschenke, andere wurden, ihrer Schläue wegen, zu Herolden bestellt. Vor allem diese erzählten denen im Tal, dass es nicht lange dauern würde, denn jeder sei seines Glückes Schmied, dann gäbe es goldene Kälber für alle. Auch wenn sich manchmal ein übler Zweifel einschlich, wurde er doch vom Augenschein überlagert: Trugen die Schlauen nicht schon bessere Kleider als die Elenden, fuhren sie nicht glänzende Kutschen, waren sie nicht wohlgestalt und ihre Rede voller Honig? Sicher würde es den Kindern der Unteren schon bald besser gehen, es brauchte eben Zeit, bis alle die Gesetze des Marktes begriffen haben würden. Aber dann. . .

Nicht wenige folgten den Lenkern in Kriege und Raubzüge, die, so las und hörte man, nur dem Schutz der Unteren dienten und deren Versorgung mit dem Nötigsten. Mancher verlor ein Bein oder das gesamte Leben. Doch nur selten verloren die Unteren den Kopf und verließen den Krieg. Denn immerhin ging es ja auch um die Freiheit aller. Und wenn man auch sonst nur wenig besaß, die Freiheit war das höchste und letzte Gut der Ärmlichkeit, und wenn man auch das noch verlöre, dann käme das dem Tod gleich. Deshalb wollten sie lieber sterben, als dieses Gut dem Feind preis zu geben. Wer angesichts solcher Gedanken den Kopf schüttelte, wurde geächtet. Zu den Zusammenkünften der Schlauheit wurde er auf keinen Fall mehr eingeladen, mancher sollte seine Besinnung auch wiederfinden, indem er lange Jahre in geschlossenen Räumen über sein Schütteln nachdenken konnte.

Dann, es waren kalte Tage in einem Januar, trafen die Lenker und Führer erneut auf dem Berg zusammen. Anders als in all den Jahren zuvor waren ihnen erstmalig die Gewissheiten ausgegangen. Der Markt, so sagten manche von ihnen, habe seine alte, unendliche Weisheit verloren. Man solle ihn einschränken, neue Gesetze für ihn ausrufen, bessere Marktschreier bestellen. Denn der Markt, der sie bisher überreich für ihre harte Arbeit belohnt hatte, gab weniger Zinsen für ihre Mühen und vor allem wüchsen in der Untrigkeit die Zweifel an den Gesetzen des Marktes und wenn es so weiter ginge und überhaupt! Fragen über Fragen türmten sich, fast so hoch wie der Gipfel auf dem sie berieten. Doch wartete die Menschheit auf ihre jährliche Botschaft aus der Höhe. Also traten die Weltweisen an den Rand des Abgrunds und riefen vielstimmig: Keine Ahnung! Nur ein Echo antwortete ihnen mit einem langgezogenen "Mahnung". Und sie ängstigten sich, denn eine Dämmerung fiel über den Ort Davos, und sie wussten nicht ob es eine Abend- oder Morgendämmerung war und was sie für wen bedeute. Sie sollen sich dann wieder über die Welt zerstreut haben. Ob es Auswirkungen hatte ist nicht weiter bekannt.