Der ehemalige Bundespräsident, Roman Herzog, hat sich in der »Süddeutschen Zeitung« zum Regierungssystem geäußert: Die Verfassung solle geändert werden, sagt der Mann, der den Deutschen schon mal einen Ruck empfohlen hat: Alle sollten mehr und besser arbeiten, oder so. Der Appell erinnerte in seiner Allgemeinheit ein wenig an Walter Ulbricht. Ansonsten natürlich nicht. Denn Walter Ulbricht hatte nie vor, das System der DDR zu ändern. Roman Herzog allerdings empfiehlt sich als systemverändernde Kraft: Die neue Partei, die LINKE, ist seiner Auffassung nach jener Tropfen, der das bisherige parlamentarische System zum Überlaufen bringt. Da gilt es Dämme zu bauen.

Die gewöhnlichen Politiker haben eine Neigung zum Formalen: Wenn Ausländer geprügelt werden, ist das nicht schrecklich für die Verletzten und unser Land, es ist schlimm weil es unserem Ansehen im Ausland schaden könnte. Wenn es nicht genug Arbeit gibt, wird keine Arbeit geschaffen, sondern die Sozialsysteme so verändert, dass Menschen schneller bereit wären zu arbeiten, wenn es denn Arbeit gäbe. Und wenn eine relativ neue Partei auftaucht , wird nicht gefragt, wo denn die politischen und sozialen Ursachen dafür liegen. Lieber konstatiert man, wie Herzog, einen »Vertrauensschwund gegenüber den Volksparteien«. Da so ein Schwund vom Himmel gefallen sein muss, wird ihm natürlich nicht inhaltlich begegnet. Nicht die sogenannten Volksparteien sollen ihre Politik ändern. Geändert werden muss die Verfassung, sagt Herzog, das Regelwerk, die Taktik. Damit die CDU-CSU-SPD-FDP-GRÜNE so weitermachen können wie bisher.

Zumindest die Ausdehnung der LINKEN in den Westen - die bekannte, alte Substanz in den Ost-Ländern wird von Westpolitikern ohnehin nur als DDR-Folklore begriffen, also nicht - hat ihre Ursache in wesentlich zwei Gründen: Die Deutschen finden mehrheitlich, dass sich die Bundeswehr aus Afghanistan zurückziehen soll. Sie finden auch, dass sie sozial nicht absteigen oder, wenn schon geschehen, eine Chance auf den Wiederaufstieg haben sollten. Eine neuere Studie des DIW bestätigt die Sorgen der Deutschen: Die Mittelschicht schrumpft, der Absturz ins Prekariat wird beschleunigt, wer arm ist, bleibt auch arm. Zu beiden Themen hat die Linke eindeutige Positionen. Alle anderen Parteien denken noch nach, haben Vernunftgründe, hoffen auf Besserung, kämpfen gegen den Terrorismus oder leugnen schlicht. Zutreffendes bitte bei der jeweiligen Partei ankreuzen.

»Bis 1980 genoss die Bundesrepublik . . . eine erstaunliche politische Stabilität« sagt Herzog und meint den alten Dreier-Klub von CDU, SPD und FDP, der in fröhlicher, kleiner Koalition, der Wechselbereitschaft der FDP vertrauend, diverse Bundesregierungen bildete. Warum nur hat Herzog die erste große Koalition 1966 vergessen? Weil sie nicht in sein Schema passt. Die CDU-SPD-Gross-Koalition jener Jahre musste einen desolaten Haushalt sanieren, wollte (mit Erfolg) die Notstandsgesetzgebung gegen einen großen, außerparlamentarischen Widerstand durchsetzen und versuchte erfolglos das zu schaffen, worüber Herzog jetzt deliriert: Das Mehrheitswahlrecht. Jenes Wahlsystem das die kleinen Parteien abschafft oder in die Bedeutungslosigkeit schickt. Mit dem Datum 1980 meinte Herzog übrigens das Gründungsjahr der GRÜNEN, denen er allerdings attestiert, dass ihr Auftreten an »den geschilderten Verhältnissen zwei Jahrzehnte lang kaum etwas« änderte. Wer die Verhandlungen um eine neue Landesregierung in Hamburg beobachtet, wird ihm nachdrücklich zustimmen müssen.

Das Bürgertum, zu dem sich Herzog sicher rechnet, ist eigentlich eine eher beharrende Kraft: Wenn es mal einen Änderungswillen äußert, formiert der sich gern in der Abwehr möglicher linker Änderungen. Dann will man den alten Kaiser Willhelm wieder haben oder eben das Mehrheitswahlrecht, als Ersatz für das preußische Dreiklassen-Wahlrecht. Leider, sagt Herzog, ist »der an sich naheliegende Gedanke an ein Notverordnungsrecht«, zur Vermeidung von Minderheitsregierungen oder anderer Schrecken, durch das NS-Regime »disqualifiziert«. Denn die »Gefahr« von Minderheitsregierungen wüchse, meint der ehemalige Bundespräsident, wenn die »Volksparteien« weiter schrumpfen. Und ein Minderheitskanzler würde »im Ausland und besonders in Brüssel als `lahme Ente´ gelten«, sorgt er sich. So ist es mit den Formalisten: Das Notverordnungsrecht ist nicht etwa undemokratisch, sondern hat sich nur disqualifiziert und, huch, was werden wohl die Leute im Ausland sagen, wenn in Deutschland mehr Parteien als bisher im Parlament sitzen?

Herzogs Verständnis von Demokratie ist von schöner Schlichtheit: Volksparteien seien jene, die im Gegensatz zu »Interessenparteien« alle Schichten der Bevölkerung ansprechen. Das werden wir uns, anhand des Afghanistankriegs, einmal übersetzen: Die Deutschen wollen mit einer haushohen Quote raus aus Afghanistan, die Volksparteien, die nach Herzog alle Schichten der Bevölkerung vertreten, nicht. Die LINKE will den schichtenübergreifenden Wunsch der Wähler in die Tat umsetzen. Das ist verwirrend. So verwirrend, dass Herr Herzog die Contenance verliert: »Es herrscht hier (in Deutschland) ein nahezu mystischer Glaube an die Gefährlichkeit der Exekutive und die Weisheit der Legislative«. Wer ans Parlament glaubt, ist doof, würde ein so ein feiner, gebildeter Mann wie Herzog natürlich nie sagen. Aber er ist offenkundig fest davon überzeugt.

Und weil so ein Ruck-Zuck-Herzog seinen Überzeugungen natürlich treuer als einem Amtseid ist, der ohnehin ein älteres Verfallsdatum hat, möchte er schon eine »Korrektur des Grundgesetzes«, um die LINKE außerhalb des parlamentarischen Einfluss zu halten. Noch hat der Wähler allerdings die Chance »die Folgen seines Wahlverhaltens abzuschätzen«, meint der Ex-Präsident und droht dem gemeinen Linkswähler ein wenig: Wenn er nicht wählt wie gewünscht, wird die Verfassung geändert. Wenn schon viele Deutschen keine Chance zum sozialen Aufstieg mehr haben, sagen sich die Herzöge dieser Republik, warum sollten ihnen das dann in der Politik gestattet sein. Die deutschen Wähler beginnen auch im Westen ihr Wahlrecht inhaltlich zu begreifen. Sie sollten sich das Denken von Herzog nicht verbieten lassen.