In diesen Tagen mehren sich die TV-Serien, Debatten und Erinnerungsartikel. Das Grundgesetz der Bundesrepublik wird 60 Jahre alt. Zugleich erinnert man sich des Beitritts vor 20 Jahren: Als die DDR verblich und in der alten Bundesrepublik aufging. Einen Staatsakt wird es geben und ein Bürgerfest in Berlin: Reden, Würstchen, Bier. Stellvertretend für viele andere erinnern sich in der RATIONALGALERIE zwei Bürger an die Ergebnisse der Einheit. Einer West, einer Ost. Veröffentlicht werden ihre Beiträge in streng alphabetischer Reihenfolge.
Meine Einheit: Der Westler
Wolfgang Breuer
Manchmal denke ich, ich möchte meine alte Bundesrepublik zurück haben. Nicht weil mich der Soli ärgert, sondern weil sie einfach das kleinere Übel war – trotz KPD-Verbot, dem einzigen KP-Verbot in einer westlichen bürgerlichen Demokratie, das bis heute nicht aufgehoben ist. Trotz der Berufverbote, die einige befreundete Lehrer trafen. Trotz der Schritte zum Überwachungsstaat, die seit den 70er Jahren mit Einschnitten ins Grundgesetz einhergingen. Aber im Vergleich zur heutigen Bundesrepublik war sie einfach das kleinere Übel – und wir im Westen hatten uns daran gewöhnt, zähneknirschend mit kleineren Übeln z. B. nach Wahlen leben zu müssen.
Natürlich will ich nicht die Mauer zurück oder jene für die Ex-DDR-Bürger schwer erträglichen Lebensumstände, die zum Ende der DDR beitrugen. Aber seit das kleinere Übel durch die Einverleibung neuer Bundesländer und den Umzug von Bonn nach Berlin größer wurde, hat es nicht nur seine bisherigen Unarten beibehalten, sondern neue dazu gewonnen. Wie etwa die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die inzwischen so selbstverständlich angeordnet, verlängert und ausgeweitet werden, als gehe es um Kaffeefahrten eines Kegelclubs. Und man darf sich durchaus fragen, ob mein mageres West-Sparguthaben für die alten Tage nicht sicherer wäre, wenn sich die alte BRD mit Blick auf die DDR etwas weniger hemmungslos verschuldet und –spekuliert hätte.
Der Systemwettstreit hatte für uns Westler durchaus handfeste Vorteile. Nicht nur bei den Lohn- und Gehaltsverhandlungen saß die DDR immer mit am Tisch, sie setzte auch Impulse in der Auseinandersetzung, wer denn nun der bessere deutsche Staat sei – durch kleinere Schulklassen, eine bessere Gesundheitsvorsorge, durch mehr Rechte für Frauen oder preiswertere Bücher. Mit dem Mauer- und Wegfall der Systemunterschiede wurden auch bei uns im Westen die Bücher teurer, die Schulklassen größer und die Arztbesuche kostspieliger. Denn nun misst sich das gewachsene Übel nur noch an sich selbst – oder anderen kapitalistischen Staaten, die noch rigoroser die Sozialleistungen kappten und die Gewinne der Unternehmen steigerten.
Wenn jetzt diese 60-20-Doppelfeiern eskalieren, fällt einem die Adenauersche Trennungsformel ein: „Lieber ein halbes Deutschland ganz, als das ganzes Deutschland halb“. Etwas wehmütig wägt man ab, wie wohl die vergangenen 60 Jahre verlaufen wären, wenn es schon 1949 ein geeintes neutrales Deutschland gegeben hätte. Oder wie es heute aussähe, wenn sich die vor 20 Jahren zu zaghaften Stimmen zugunsten einer Staaten-Föderation BRD-DDR durchgesetzt hätten. Hätte, hätte Fahrradkette – so holte es uns Linke vor 20 Jahren schmerzhaft vom Rad und es dauerte Jahre, bis wir uns vom Scheitern des Sozialismus-Versuchs und dem Obsiegen des Kapitals einigermaßen erholen konnten. Dass sich der Kapitalismus in der Zwischenzeit erfolgreich selbst an den Rand des Bankrotts brachte, ist ein unfreiwilliges Kompliment an Karl Marx und ein Wink mit dem Laternenpfahl, endlich unser Land zu verändern.
Das 60 Jahre alte Grundgesetz, das noch aus meiner kleinen Bundesrepublik stammt, verweist übrigens auf Möglichkeiten – und man sollte höllisch aufpassen, dass jetzt die 60-20-Feierei nicht missbraucht wird, diesen bewahrenswerten BRD-Rest durch eine neue stromlinienförmige Verfassung nach EU-Gusto zu eliminieren. Die von Müntefering angestoßene Debatte ist scheinheilig: Hätte man vor 20 Jahren nicht die „neuen Bundesländer“ einfach annektiert und ihnen die westdeutsche Wirtschafts- und Sozialordnung übergestülpt, sondern den langwierigen Weg eines demokratischen Vereinigungsprozesses eingeschlagen, gäbe es vielleicht eine gemeinsam erarbeite gesamtdeutsche Verfassung. So aber leben wir mit dem alten Grundgesetz, in dem sich glücklicherweise noch Reste der Erkenntnisse und Konsequenzen finden, die nach dem 2. Weltkrieg gezogen wurden – und zwar in gewissem Sinne grenzüberschreitend.
Dass Eigentum verpflichtet und dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll (Artikel 14), dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können (Artikel 15) eröffnet Möglichkeiten über den Turbo-Kapitalismus hinaus – und damit ist mehr als eine Vergesellschaftung von Bankschulden zwecks späterer Bereicherung der Bankaktionäre gemeint. Die Betonung liegt eindeutig auf „sozialer Rechtsstaat“ – und wenn es Forderungen gibt, das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, Bildung und soziale Sicherheit im Grundgesetz zu verankern, dann entspricht dies exakt Buchstaben und Sinn dieser Verfassung.
Schon um dieser dringend notwendigen Veränderungen willen verzichte ich lieber doch auf die alte Bundesrepublik. Dass das Reisen leichter geworden ist, empfinde auch ich als einen Fortschritt – die Sommertage auf dem Darß möchte ich nicht mehr missen. Dass es in den „neuen“ Bundesländern nicht so kalt, berechnend und feindselig oder protzig zugeht wie oft im Westen, sondern immer noch mehr menschliche Wärme und Offenheit zu spüren ist, muss irgendwas mit dem System zu tun gehabt haben – auch wenn die Bundeskanzlerin noch so davor warnt, die DDR schönzureden. Aber das Wiederkäuen aller DDR-Fehler und –Verbrechen lenkt ja hervorragend von den aktuellen Ge- und Verbrechen des Kapitalismus ab.
Interessant ist, wie die Generation der nach der Wende geborenen Westler die aktuelle Diskussion verfolgt. Mein Sohn kennt die DDR nur aus unseren Gesprächen und den Medien. Dass sie dort meist verteufelt wird, macht sie für ihn interessant. Ihn alarmieren allerdings die Neonazi-Konzentrationen in manchen östlichen Regionen. Er schaut weniger zurück, mehr nach vorne – und unter dieser Perspektive wirkt für ihn zum Beispiel die Debatte über den Wahlbetrug in der DDR absurd, wenn in Hamburg nur noch etwas mehr als 60 Prozent der Bürger zur Wahl gehen, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Stimme doch für die Tonne ist. Das Gerede von heutiger Demokratie und damaligem „Unrechtstaat DDR“ klingt hohl in seinen Ohren, wenn er als 16-jähriger von der Polizei festgenommen und vom Hamburger Staatsschutz verhört wird, weil er Nazi-Raus-Sticker an Laternenmaste klebt.
Vielleicht hat dieser 60-20-Rummel ja eine ganz andere Wirkung, als sich manch Regierender denkt und wünscht: Wir erinnern uns der noch nicht verwirklichten Verfassungsgrundsätze – und machen dieses Land demokratischer und sozialer. Und wir knobeln wieder verstärkt an gesellschaftlichen Alternativen – ohne die gleichen Fehler zu machen wie vor 20 Jahren. Das wäre doch ein würdiger Umgang mit zwei Jubiläen – und ein Schritt zu einer Bundesrepublik, mit der man mehr eins sein könnte.
Meine Einheit: Der Ostler.
Frank-R. Schark
Einheit werde, so heißt es, nur vor dem Hintergrund von Trennung, „Distinktion“, erfassbar. Letztere als Voraussetzung der Ersteren haben einige der geneigten Leser 1949, wir gedenken ihrer Jährung gerade in vermutet verschiedener Stimmung, selbst erlebt. Alle lebten wir mit den Konsequenzen, mehr schlecht oder auch ganz recht? Distinktion, so die Wissenschaft, führe zur Herstellung von Differenzen, sprich: gleichwertigen Elementen, und von Unterscheidungen, ungleichwertigen. Auch das haben wir erlebt. Durch nachfolgende Entscheidungsoperationen könne es zu Kommunikation, Handlung und zu Gesellschaft kommen. Könne.
Es war im Spätherbst 88, als der damals wohl Bundesinnenminister in einem international verbreiteten, regierungsamtlichen Bulletin kundtat, es strebe sein für mein Land ein politisches und wirtschaftliches System analog dem der Bundesrepublik Deutschland an. Anlass und Konsequenzen derlei absichtsvoller Rederei schienen mir damals nicht ernsthaft prüfenswert. Schien doch die subjektive Ablehnung bundesdeutschen Vereinnahmungsstrebens zumindest für meine Lebenszeit solide fundiert. 24 Monate später unterbrach ich dann in einer milden Oktobernacht am Berliner Leninplatz die Heimfahrt mit der Straßenbahn: Das Feuerwerk über dem Friedrichshain hatte begonnen.
Sein Nachhall lehrte den Umgang mit Demütigungen in schneller Folge und nahezu jedem Lebensbereich. Die Ausbildung im verglühten Staat, etwas Glück und unerwartete Hilfe durch ein, zwei als eher atypisch empfundene Westmenschen verhinderten den vor Augen stehenden sozialen Absturz samt ringsum beobachtbarer Folgen. Die mit der Machtfülle eines dazumal in Perma-Blüte scheinenden Systems vorangetriebenen, meist so unsäglichen wie schwer erträglichen Delegitimierungskampagnen hinerließßen ihre Spuren dennoch dauerhaft. Materiell geht es gut. Schnelle Autos, Wein und Käse grenzenlos - feinfein. Ebensolches Reisen auch. Der Preis indes bleibt dafür stets bewusst. Der neue Glanz einst wenig strahlender Innenstädte, Ergebnis hereingeströmter Steuer(spar)milliarden, er berührt mich kaum. Ist es doch nicht mehr meins, was da nun scheinbar blüht. Zum Einheits-Jubelperser taugt meinesgleichen sicher nicht.
Einzelmeinung? Nicht repräsentativ? Jaja, meinetwegen. Hinter´m Rücken der unverändert fremden Herren samt Medien-Claque und eingeborener Lakaien greift Frust jedoch auch anders hergeleitet vielerorts anhaltend Raum. Drei von vier der euphorisch Beigetretenen fühlen sich nun noch immer ausgegrenzt, als Bürger zweiter Klasse der real existierenden BRD. Da kann ein verordnetes Brot-und-Spiele-Spektakel „Freiheit und Einheit: 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ kaum anderes sein als geschmacklose Parodie der wahren Verhältnisse. Bezeichnung und Datum andererseits spiegeln auf den zweiten Blick ein klares Stück Realität, gewiss nicht ungewollt. Um letzte Zweifel auszuschließen, wer da wen wann was feiern lässt, beginnt nach der peinlichen 60-Jahre-60-Werke-Posse von BILD und Bund als kulturelle Fernumrahmung der Partymeile ebenfalls zum Gründungstag des Teilstaats West, der Wiederkehr zu Staat geronnener Spaltung also, im Germanischen Nationalmuseum nach nur 20 Jahren eine geeinte Retrospektive einst zweistaatlicher Kunst. Sie endet, wer hätte anderes erwartet, noch im September. Es sind die vielen politischen Signälchen, die Distinktion zementierenden Demonstrativakte, gemischt mit den im Osten besonders anschaulichen Folgen wirtschaftsliberaler Umverteilung, die verkündeter Einheit realiter fest gefügt im Wege stehn. An wohlfeiler Chimäre Liberté darf sich zwar nun auch Zonen-Gurkengabi hemmungslos ergötzen - toujours, gestopft wie in der Pfeife zu rauchen. Ohne wahre Egalité, die setzte freilich schwer erwartbaren, grundsätzlichen Wandel voraus, wird jedoch gewiss keine wahre Fraternité.
So lange der Massenexodus junger Frauen aus ach so toll sanierten Städten und verödenden Dörfern im Hunderttausend-Quadratkilometer-Armenhaus, die größte Menschenumverteilung in Friedenszeiten hierzulande seit der Völkerwanderung, unvermindert andauert, so lange ganze Regionen des Anschlussgebiets nach OECD-Standards als entvölkert zu gelten haben, so lange noch auf jeder Statistik-Landkarte zu Kinderarmut, Lebenserwartung, subjektiver Zufriedenheit, absehbarer Altersnot, Arbeitslosigkeit natürlich, die materiell entfallenen Systemgrenzen überdeutlich ins Auge prellen, so lange ein Homo zonensis als Landesminister in Niedersachsen, Vorstand eines bayerischen Unternehmens oder Chefredakteur einer Zeitung in Baden-Württemberg ganz und gar un-denkbar bleibt, so lange die scheinbar siegreiche Seite noch jede Facette partieller Überlegenheit der „Ehemaligen“ mit demagogischem Dampfhammer nivelliert, so lange vergessen Sie das Einheits-Geschwafel mal getrost. Bis nicht die Jahrgänge vor 1970 mehrheitlich weggestorben sind, steht der mit gigantischem Eifer und Aufwand auf allen Kanälen in Endlosschleife penetrierten Deutungspropaganda ohnehin der Zeitzeuge als Korrektiv zu 20 Jahren medialer Umerziehungsbemühungen, zu zwei Jahrzehnten Dominanz politisch gefärbter bis plump gefälschter Geschichtsbeschreibung und -bewertung entgegen, die ohne auch nur geringste Verredlichung in den nicht ansatzweise abgerüsteten Westarsenalen des Kalten Propagandakrieges fortgehätschelt, dem Beitrittsvolk brachial übergeholfen wurden.
In einem klugen, von „unseren“ so gänzlich zensurfreien, pluralistischen Medien erwartbar unisono zum Zehnzeiler zusammenverschwiegenen dpa-Interview fand Günter Grass unlängst richtige Worte zu Realität und Perspektive der Lage dieser vermeintlich nun einen Nation. 90 Prozent der Produktionsmittel in den hinzugewonnenen Gebieten, so Grass, seien heute in westlicher Hand. Man mag hinzufügen: Derlei Trennung von Besitz und Bevölkerung eines Siedlungsgebiets findet sich weltweit wohl kein zweites Mal. Dieses Ausmaß von Enteignungen, so Grass, habe er sich 1990 nicht vorstellen können. In nochmals 20 Jahren sei dann zwar „eine Generation dran, für die das alles Geschichte ist. Die festgeschriebenen Eigentumsverhältnisse dauern allerdings länger.“ Und genau das, denkt man bei sich, könnte einen unerwartet dicken Strich durch das Aussitz-Kalkül einer biologischen Entwicklung bedeuten, die schließlich zu unangefochtener Deutungshoheit West führen soll. Zurück zu Grass. Eine uns unter Missachtung der Grundgesetzvorgabe vorenthaltene, tatsächlich von auf Einheit und Gemeinsamkeit getragenen Überlegungen geprägte, neue (für den Westen ja erstmals überhaupt wirkliche) Verfassung sieht er als Gebot der Stunde – und meint das im Gegensatz zum schon 2004 bei einem PR-Auftritt im sächsischen Pirna von Passanten als Arbeiterverräter identifizierten rosa Oberwahlkampfstrategen offenbar auch genau so. Nun ja, der alte Schreiberling – gut gedacht, aber doch ein wenig nicht von unserm Stern. Realistischer wohl seine Erwartung, „dass das Misslingen der deutschen Einheit in vielen Bereichen, die auf keiner Einigkeit beruht, weggeschwindelt wird.“ Dass „wir uns auf all den Gedenkfeiern in diesem Jahr in die Tasche lügen werden.“ Chapeau, Herr Grass, exakt so wird es sein.
Was mag der Ostler dem berühmten Literaten da noch hinzufügen? Höchstens Verblüffung darob vielleicht, dass eine sorgfältig kalkulierende teilnationale Front aus Politikern und Medienmachern es im Laufe für unsere Generation entscheidender zwei Jahrzehnte tatsächlich vermochte, zunächst zumindest doch partiell vorhandene Neugier aufeinander gründlich auszutreiben: Der Kontakt zu netten Menschen aus Kiel, Kassel, Koblenz ist mir zumindest inzwischen kaum wichtiger als jener zu angenehmen Zeitgenossen in Kiew, Kopenhagen oder auch Kapstadt.
Ganz anderes hatten sicher die Grünen im Sinn, als sie am 3. Oktober ´90 Unter den Linden zu Berlin das im Erwartungsrausch lustwandelnde Ostvolk mit grün bedruckten Klappkärtchen, symbolträchtig hoch vom LKW herab, beschenkten: „Viel Spaß bei der Vereinigung“ - Passt aber bloß auf“, so ihr frommer Wunsch. Als Liebesgabe beigefügt war ein echtes West-Kondom; und das ganz umsonst. Wie hernach so vieles mehr.
In diesem Sinne: Feiern Sie nur schön. Ihre Einheit.