Im trüben, novembrigen Leipzig trafen damals die aus dem Westen auf den Osten. Jahr für Jahr. Bei einem Filmfestival. Dort waren viele jener Filme zu sehen, die von der Zweiteilung der Welt handelten, von den Kriegen der Schwachen gegen die Starken, von den Versuchen dieses oder jenes Stück Freiheit zu gewinnen oder zur verteidigen. Filme aus Vietnam, Angola, Chile, Nicaragua. Ländernamen wie Fahnen. Nach den Filmen Diskussionen, Gespräche mit allen und jedem. Unter ihnen immer auch solche, die nachher Buch führten: Wer hatte wann was gesagt? Das sammelte ein eigenes Ministerium, von nicht wenigen belächelt, von manchen gefürchtet. Ein Finger zeigte an die Decke: Die lauschende Maschine konnte in der Lampe stecken. Ein Finger legte sich auf dem Mund: Jetzt, in der Gegenwart von dem da, nur Belangloses erzählen. Was damals wie ein Spiel erschien, ist heute eine lange, klebrige Spur, die aus Akten in die Medien rinnt und die Debatte von Recht und Unrecht, von Freiheit und Unfreiheit eher verkleistert, als sie transparent zu machen.

Manchmal wurden die Leute nach einer Demonstration weggefangen und von der politischen Polizei verhört: In Düsseldorf oder Frankfurt, in Westberlin oder Hamburg. So wurde der Grundstein für die Akten gelegt. Im Westen Deutschlands, gerne Bundesrepublik genannt, gab es überall politische Kommissariate und auch die Ämter für Verfassungsschutz. Als sich in den 60er Jahre mehr und mehr Menschen gegen den Krieg in Vietnam engagierten - nicht wenige hatten schon seit dem mörderischen Krieg der Franzosen in Algerien kein Vertrauen mehr in eine Regierung, die viel von Freiheit redete, aber bei der Unterdrückung mancher Völker behilflich war - schien der Obrigkeit die Sicherheit der Bundesrepublik bedroht. Viele neue Stellen in den Ämtern sollten die Sicherheit verstärken. Lange bevor die RAF existierte - eine kleine Gruppe, die sich sehr gut als Schreckgespenst eignete - hatte der Sicherheitsapparat seine Spitzel in den Zentren der Opposition außerhalb der Parlamente.

Völlig umstellt von Diensten aller Art waren auch die Bürger in den vorgeblich sozialistischen Ländern. Über Herta Müller, die in diesen Tagen den Nobel-Preis für Literatur bekommen hat, eine deutschsprachige Frau aus Rumänien, ist von den Repressionen solcher Dienste zur Zeit fast mehr zu hören, als von ihrem literarischen Werk. Auch werden gerade im Land Brandenburg wieder Mitarbeiter der Staatssicherheit gesichtet: Ziemlich pünktlich liefert die Birthler-Behörde alte Akten von damals jungen Leuten, nach Beginn einer rot-roten Koalition in Brandenburg. Der allerjüngste Fall kommt aus der selben Gegend wie Herta Mülller: Werner Söllner, einer aus der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien, wurde mit zwanzig Jahren vom dortigen Geheimdienst zur Zusammenarbeit erpresst. Einige Jahre später hatte er sich von der Erpressung befreit. Jetzt wird er gerne in Feuilletons vorgeführt. Als schmückendes Beispiel. Denn Herta Müller hat der Securitate widerstanden. Sagt die bekannte Aktenlage. Da glänzt die Verweigerung noch im trüben Spiegel des Versagens anderer.

Als Werner Söllner sich 1971 dem rumänischen Geheimdienst ergab, lief der Vietnamkrieg noch auf Hochtouren. Nicht, dass man Söllners Schwachstelle mit diesem Krieg erklären könnte oder wollte. Aber es gab zu jener Zeit in unserem und in anderen Ländern jede Menge Leute, in der übergroßen Koalition der Selbstgerechtigkeit, die diesen Krieg zumindest notwendig fanden oder sogar begrüßten. Gibt es heute eine Vietnamkriegsverbrecher-Behörde, die offenlegt, wer diesen dreckigen, ungerechten Krieg in unserem Land befürwortete? Wer, wie Ludwig Erhard in jener Zeit die finanziellen Zuwendungen an die amerikanischen Freunde erhöhte oder, wie Willy Brandt erklärte, dass "die Freiheit Berlins" in Vietnam verteidigt wurde, steht in keiner Akte. Die Gegner des Kriegs schon. Auch die Freunde des faschistischen Chiles finden sich auf keiner Liste der Dienste. Während die Gegner Pinochets in der Bundesrepublik sorgsam verzeichnet sind.

Allein zur Zeit der Berufsverbote für Lehrer, Lokomotivführer und andere im öffentlichen Dienst, die Kriege schlecht fanden und auch die jeweils amtierende Regierung, wurden rund 1,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik auf ihre Gesinnung überprüft. Da so ein Berufsverbotsdienst den schmutzigen Job nie und nimmer alleine hätte machen können, gab es Tausende, die ihm zugearbeitet haben. Das nennt man, nach den Kategorien, die man jetzt in Zeitungen liest und in TV-Sendungen sieht: Spitzelei. Und sie ist - ein Akt ohne Anklage und Richter, ohne Parlament und Appellation - undemokratisch. In den Ämtern für Verfassungsschutz und der politischen Polizei lagern Akten über Akten, Namen über Namen, von Tätern und Opfern. Doch diese lange, durch kein Gesetz gedeckte Geheimdienstarbeit im Westen liegt nicht offen. Keine Behörde, bei der ein Opfer die Dokumente seiner Verfolgung einsehen könnte. Kein Rechtsanwalt - und es gibt Versuche genug - der seinem Mandaten Einblick verschaffen könnte.

Einmal begegnete ich, nach der Wende, einer Sängerin aus der verblichenen DDR. Die hatte sich, als sie um die Zwanzig war, zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit bereit erklärt. Wenig später kam die Stasi zur Überzeugung, sie sei eine Gegnerin des Systems und ließ sie beobachten. Die Frau hielt die DDR eine Zeit lang für den besseren deutschen Staat. Dazu hatte die Biographie ihres Vaters nicht unwesentlich beigetragen. Der war dem Konzentrationslager noch gerade so von der Schippe gesprungen und fand, dass sein Staat gesichert werden sollte. Herta Müllers Vater war, als Mitglied der während der Nazi-Zeit geschätzten deutschen Minderheit in Rumänien, Soldat der Waffen-SS geworden und verdiente sich nach dem Krieg seinen Unterhalt als LKW-Fahrer. Die "Volksdeutschen", die noch während der faschistischen Diktatur in Rumänien - die beim Vernichten von Juden und Roma genauso fleißig war wie ihr reichsdeutsches Vorbild - sehr beliebt waren, galten dem kommunistischen Rumänien eher als feindlich. Biographien aller Art sind ohne historische Zusammenhänge nicht zu begreifen.

Es ist eben das mangelnde Wissen um die Zweiteilung der Welt und ihre Ursachen, die es ausschließen, einen einzelnen "Fall" zu prüfen oder ihn gar zu verstehen. Dieser Mangel gibt der geradezu modischen Denunziation den Kampagnencharakter: Osten böse, Westen gut. Wem an einer wirklichen Offenlegung der Verhältnisse gelegen ist, wer auch dem Einzelnen gerecht werden wollte, der muss alle Akten zugänglich machen. Auch die im Westen. Und bitte: Meine zuerst.