Es sollte ein ruhiger Sommer werden. Kein anderer als Hassan Nasrallah, Generalsekretär der libanesischen Hisbollah-Partei und Oberbefehlshaber der Hisbollah-Milizen, hatte dieses Versprechen gegeben: Die Touristensaison und die sich weiter erholende libanesische Wirtschaft wolle er keineswegs durch spektakuläre, gegen Israel gerichtete Militäraktionen gefährden. Das hatte Nasrallah noch wenige Tage vor dem Beschuss Nordisraels und der anschließenden Entführung zweier israelischer Soldaten am 12. Juli der Regierung in Beirut und, über Kontaktleute, den Vereinten Nationen mitgeteilt.

Über dieses überraschende Detail aus der Vorgeschichte des neuesten Nahostkrieges berichtet die »International Crisis Group« (ICG). Nasrallah hatte aber auch, nämlich bereits im Herbst 2005, angekündigt, das Jahr 2006 werde das »Jahr der Rückführung der Gefangenen” sein. Noch immer befinden sich drei libanesische Bürger in israelischer Haft, einer, Samir Kuntar, libanesischer Druse, schon seit 1978. Zudem sitzen etwa 9 000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen, viele davon nur deshalb, weil sie an der im Jahr 2000 ausgebrochenen zweiten Intifada teilgenommen hatten. Zu ihnen gehört der charismatische PLO-Führer Marwan Bargouti.

Diese Intifada richtete sich nicht, im Kontext des neuen Libanonkrieges muss dies noch einmal erwähnt werden, gegen die Existenz Israels. Vielmehr wollten die Aufständischen die Basis legen für die Gründung eines palästinensischen Staates, den inzwischen sogar George Bush und Condoleezza Rice befürworten – jedenfalls in ihren öffentlichen Äußerungen. Und dennoch sind in Israel derzeit Minister der demokratisch gewählten palästinensischen Hamasregierung inhaftiert, die Israel nach der Entführung eines seiner Soldaten zu Beginn seiner Gazaoffensive festsetzte.

Nun ist also alles anders gekommen, als es Nasrallah versprochen hatte. Der Nahe Osten wird durch einen neuen Krieg erschüttert, den sechsten nach 1948, 1956, 1967, 1973 und 1982, der letzten israelischen Libanon-Invasion. Zählt man die drei Golfkriege hinzu – 1980-1988 Irak/Iran, 1991 Kuwait und 2003 US-Irakinvasion – ist es der neunte Krieg in 58 Jahren. Im Durchschnitt erlebt die Region somit alle sechseinhalb Jahre einen Krieg. Nimmt man die 15 Jahre des libanesischen Bürgerkrieges (1975-1990) hinzu – im Verlaufe dessen die großen Regionalmächte immer wieder ihre Konflikte auf libanesischem Territorium austrugen – so kommt man auf zehn Kriege, alle gut fünfeinhalb Jahre einen. Nicht eingerechnet in diese grauenvolle Statistik sind die erste Intifada von 1987 bis 93 und die zweite, welche im Jahr 2000 begann. Der Vollständigkeit halber könnte man außerdem noch Nassers Intervention im Jemen in den sechziger Jahren, den Krieg Nordjemen gegen Südjemen von 1994 und den jordanischen Bürgerkrieg von 1970 hinzurechnen (in dem König Hussein Arafats PLO aus Amman vertrieb).

Überflüssig zu sagen, dass fast alle Konflikte irgendwie miteinander zusammenhängen, besonders der palästinensische und der libanesische – und dass weder die von George H. W. Bush 1991 verkündete »Neue Weltordnung« die Konflikte gelöst hat, noch dass die Ankündigung eines »Neuen Nahen Ostens« durch Condoleezza Rice die Region befrieden wird. Umso fataler ist es, dass in all den Jahrzehnten Europa keine eigene Nahostpolitik entwickelt hat, sondern sich mehr oder weniger an die Rockschöße der Amerikaner klammerte, die ihren Verbündeten Israel mit bis jetzt knapp 30 Vetos im UN-Sicherheitsrat schützten.

Ja, es gab in all den Jahren auch Friedensverträge – jenen zwischen Ägypten und Israel im Jahre 1978/79 (der andererseits Israels Libanoninvasion erst ermöglichte, weil Israel, wie heute auch, keinen Zweifrontenkrieg fürchten muss). Es folgten die Osloverträge von 1993 – die letztlich scheiterten, weil sie von israelischen Politikern wie Benjamin Netanjahu und Ariel Scharon nie akzeptiert wurden. Und schließlich schlossen 1995 auch Jordanien und Israel Frieden. Er wurde möglich, weil sich Arafat vorher mit Israel in den Osloverträgen arrangiert hatte.

Und, man hat es schon vergessen, es gab tatsächlich Friedensnobelpreisträger in der Region – sogar gleich fünf. So groß war die Sehnsucht der Außenwelt nach Frieden, dass das Preiskomitee jeden vermeintlichen Schritt zur Lösung des Konfliktes belohnte: Anwar al-Sadat, Menachem Begin (1978), Jassir Arafat, Shimon Peres und Yitzhak Rabin (1994) wurden durch die Auszeichnung ermutigt, auf dem Pfad der Verständigung fortzuschreiten.

Doch die Bemühungen waren vergebens. Wieder gibt es Krieg, wieder einmal im Libanon. Und wieder einmal, wie schon im Bürgerkrieg und nach der israelischen Invasion 1982, liegt das Land in Trümmern. Diesmal wurde es von Israel um ein- oder eineinhalb Jahrzehnte zurückgebombt – genau so, wie man es in Jerusalem zu Beginn des Bombardements angekündigt hatte. Das Muster ist bekannt – es ist das Muster des Golfkrieges von 1991. Bevor die amerikanischen Bodentruppen Saddam Husseins Armee aus Kuwait vertrieben, zerstörten sie in einer wochenlangen Bombenkampagne die gut ausgebaute Infrastruktur eines noch immer starken arabischen Landes. Die Bomben und die anschließenden Sanktionen sollten, so äußerten sich nach dem Krieg westliche Diplomaten im privaten Gespräch mit Journalisten, einen Konkurrenten Israels für lange Zeit schwächen. Dasselbe geschieht 15 Jahre später mit dem Libanon. Ein arabisches Land im wirtschaftlichen Aufschwung wurde entscheidend geschwächt, ein wirtschaftlicher und politischer Konkurrent Israels ausgeschaltet. Avi Primor, ehemals israelischer Botschafter in der Bundesrepublik, äußerte in den ARD-Tagesthemen deutliche Kritik an dieser Strategie seines Landes. Wer, so argumentierte Primor, die Hisbollah tatsächlich ausschalten wolle, müsse das mit Bodentruppen tun.


Krieg wegen Kidnapping – Kalkül oder Irrtum?

War Hassan Nasrallah auf eine solche israelische Reaktion gefasst? Musste er gar damit rechnen? Nachdem die Weltöffentlichkeit die anfänglichen gegenseitigen Beschuldigungen und Propagandaschlachten der Krieg führenden Parteien über sich hat ergehen lassen müssen, liegen nun die ersten seriösen Recherchen und Analysen vor. Die vorsichtige Antwort auf die Frage, ob die Hisbollah und mit ihr Syrien und der Iran diesen Krieg so gewollt haben, muss wohl ein Nein sein. Auf die Frage, warum er die israelischen Soldaten entführt habe, antwortete Nasrallah am 20. Juli im Al-Jazeera-Fernsehen: »Die fortgesetzte Gefangenschaft dreier Libanesen in Israel ist eine außerordentliche libanesische Sorge, deren Behebung keinerlei Aufschub duldet«. Im schon zitierten Crisis-Group-Report heißt es, dass Nasrallah zwar einige israelische Militäraktionen erwartet habe, nicht aber das »Ausmaß und die Intensität der israelischen Reaktion«. Schnell habe Hisbollah jedoch umgeschaltet, die Gruppe habe die Identität »einer Vorhut der arabisch-islamischen Welt« angenommen, welche für eine »ideologische, anti-imperialistische Sache« kämpfe. In einem Interview gegenüber dem »Council on Foreign Relations« bestätigt Julia Chucair von der »Carnegie Endowment for International Peace«, dass Hisbollah keinen umfassenden Krieg mit Israel geplant habe. »Ich glaube, dass Hisbollah nicht mit einer solchen Vergeltung Israels gerechnet hat. Das ist wichtig, wenn man sich daran erinnert, was Hisbollahs Ziele gewesen sein mögen. Hisbollah hat über einen Austausch von Gefangenen wirklich eine sehr lange Zeit gesprochen – sechs Jahre lang.«
Problematisch bei dieser Analyse bleibt der konkrete Zeitpunkt der Aktion. Dabei mag sich, wenn denn die eben zitierte Analyse stimmig ist, Hassan Nasrallah schlicht verschätzt haben. Tatsächlich hatte es bereits vorher Versuche gegeben, israelische Soldaten als Faustpfand für einen zweiten Gefangenenaustausch nach 2004 zu entführen. Diese scheiterten jedoch. Für Nasrallah war das dann letztlich erfolgreiche Kidnapping möglicherweise eher eine Frage der günstigen militärischen Gelegenheit. Die politischen Umstände hat er, niemand weiß es allerdings genau, dabei womöglich außer Acht gelassen. Denn das Kidnapping fiel nun einmal mit der Tötung zweier israelischer Soldaten und mit der Entführung eines weiteren und dem anschließenden Feldzug der Israelis in Gaza zusammen. Da Israel gerade dabei war, die demokratisch gewählte und gerade deswegen wohl besonders verhasste Hamasregierung in Gaza zu beseitigen, war es aus israelischer Kriegslogik nur konsequent, sich auf ähnliche Weise nun auch der Hisbollah anzunehmen. Die Möglichkeit, dass sich der Hisbollah-Führer entscheidend verkalkuliert hat, ist also nicht auszuschließen. Dafür sprechen auch die möglichen politischen Folgen des Krieges – etwa die Stationierung der Libanesischen Armee entlang der libanesisch-israelischen Grenze oder direkt hinter einer UN-Schutztruppe. Dies wäre nach Ansicht von Professor Saad-Ghorayeb von der »American University in Beirut« (AUB) für Hisbollah eine schwere Niederlage: »Dann wäre die Partei am Ende.«


Hisbollah – mehr als Erfüllungshilfe Syriens oder des Iran

Hat Hisbollah also im Auftrag Syriens und des Iran gehandelt? Die unabsehbaren Risiken für die eigene Organisation könnten dafür sprechen. Im Kampf um internationale Unterstützung bezeichnen besonders Israel und die USA in ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen die Hisbollah als den verlängerten Arm des Iran und Syriens. Daraus folgern sie, dass die Hisbollah ihren Krieg im Libanon weitgehend im Auftrag von Teheran und Damaskus führe. Dass der Iran und Syrien im Hintergrund ihre Fäden ziehen, ist unbestritten. Aber auch die USA und Israel wissen, dass die Hisbollah, obwohl von Teheran und Damaskus ausgerüstet und politisch unterstützt, zu einer weitgehend eigenständigen Organisation geworden ist. Bekannt ist auch, dass Hassan Nasrallah – gestärkt durch sein hohes Ansehen bei den Bewohnern vieler arabischer Länder – durchaus ein Führer ist, der auch unabhängig von Weisungen anderer handelt. Vermutlich ist die Entführung der israelischen Soldaten grundsätzlich nicht ohne Wissen des Iran und Syriens geschehen. Ob sie über den Zeitpunkt informiert waren, ist unbekannt. Dass die Aktion aber von dort mit dem Ziel angeordnet wurde, einen umfassenden Krieg auszulösen, ist, vorsichtig formuliert, nicht erwiesen. Die Zeiten, in denen ein Führer wie Hafes al-Assad bei einem Hisbollah-Chef anrufen und bindende Empfehlungen geben kann, sind jedenfalls lange vorbei. Heute hat sich die Situation eher gedreht. Natürlich braucht die Hisbollah Syrien, vielmehr aber gewinnt der geschwächte Präsident Baschar al-Assad in seinem Lande an Popularität, wenn er Hassan Nasrallah zu seinen politischen Alliierten rechnen kann. So ist etwa Julia Chucair der Ansicht: »Einer der größten Fehler bei der Erörterung des gegenwärtigen Konfliktes ist die Annahme, dass die Hisbollah nur ein Stellvertreter des Iran und Syriens ist. Nach dem syrischen Rückzug aus dem Libanon im Jahre 2005 hat sich in diesem Konflikt eine Sache klar herausgestellt, dass sich Hisbollah nicht auf politische Unterstützung aus Syrien verlässt. Fast kann man die Beziehung umdrehen, um seiner Glaubwürdigkeit willen verlässt sich Baschar al-Assad tatsächlich auf die Hisbollah. [...] Hisbollah ist zu einem äußerst einflussreichen und mächtigen Faktor im Libanon und in der Region geworden.«

Die Einflussmöglichkeit, die sich westliche Politiker jetzt von Syrien wünschen, haben sie dem Land im letzten Jahr, sicher aus guten Gründen, genommen. Schließlich steht Syrien immer noch im dringenden Verdacht, die Ermordung Rafiq Hariris gesteuert zu haben. Westliche Politiker klopfen in Damaskus also möglicherweise an eine Tür, hinter der ein viel weniger mächtiger Politiker sitzt als vermutet. Erfolg hätten sie damit nur dann, wenn sie dem Land eine glaubwürdige Perspektive auf Rückgabe der von Israel 1967 eroberten und 1981 annektierten Golanhöhen eröffnen könnten. Eine Lösung der Golanfrage, die im Jahre 2000 kurz vor Hafis al-Assads Tod in Verhandlungen zwischen Israel und Syrien schon einmal nahe schien, würde Syriens Prestige und Einfluss erhöhen. Doch danach sieht es nicht aus. Die Regierung in Jerusalem fordert zwar die für Israel opportune Verwirklichung der UN-Resolution 1559 (Entwaffnung der Hisbollah), weigert sich aber seit Jahrzehnten, die für Israel unangenehmen Resolutionen 242 (1967) und 338 (1973) zu befolgen, die das Land zur Räumung der besetzten arabischen Gebiete verpflichtet.

Und schließlich zum Mittelpunkt der »Achse des Bösen«, zum Iran. Condoleezza Rice und Joschka Fischer sehen den Iran, insbesondere das derzeitige Regime unter dem Präsidenten Ahmadinedschad mit seinen antisemitischen Hasstiraden, als den eigentlichen Drahtzieher hinter Hassan Nasrallah. Aber Nasrallahs Hisbollah ist ein Teil der libanesischen Gesellschaft und des fragilen, eigentlich völlig unzeitgemäßen konfessionellen Systems. Dieses wurde von den Siegermächten des ersten Weltkrieges geschaffen, als sie den kolonialen Kunststaat Libanon schufen, indem sie das Land vom historischen Syrien abtrennten. Ein Interesse an der Zerstörung seines Landes kann Nasrallah nicht haben. Seine Ablehnung des Staates Israel beruht auf der in der muslimischen Welt allgemein gestellten Frage, warum diese muslimische Welt durch Abtretung eines, wenn auch kleinen Teils ihres Landes für den seinerzeit in Europa grassierenden Antisemitismus (den es im Islam nicht gab) und den von den Deutschen zu verantwortenden Holocaust büßen müsse. Kein anderer als der saudische Staatsgründer Abdel Asis Ibn Saud hat diese Haltung dokumentiert, als er am 15. Februar 1945 bei einem Treffen mit Franklin Roosevelt die Zustimmung zur Gründung Israels mit den Worten verweigerte: »Geben Sie den Juden die besten Ländereien und die besten Häuser der Deutschen. […] Der Verbrecher muss den Preis bezahlen, nicht aber der unschuldige Zeuge.«


Hassan Nasrallah und das koloniale Erbe

Als Libanese ist auch Hassan Nasrallah Erbe und Leidtragender jahrzehntelanger, bis heute andauernder kolonialer Politik. Mit dem Iran, dessen Menschen ein ähnliches Schicksal teilen, ist er darüber hinaus spirituell tief verbunden. Er hat in der für Schiiten heiligen Stadt Nadschaf im Irak studiert, jener Stadt, in der auch Ayatollah Khomeini zur Zeit von Schah Resa Pahlavi zeitweise im Exil war. Zweifellos ist Nasrallah vom Gedankengut Khomeinis beeinflusst. Der iranische Religionsführer wollte die schiitische Revolution in andere muslimische Länder tragen – nach Saudi Arabien mit seiner schiitischen Minderheit, nach Bahrain mit seiner schiitischen Mehrheit und in den Libanon, in dem die Schiiten zwar nicht die Mehrheit stellen, aber heute die größte Volksgruppe bilden. Doch diese Verbundenheit allein erklärt natürlich die heutige Situation in keiner Weise. Denn die Hisbollah ist in erster Linie das Ergebnis der ersten beiden israelischen Libanoninvasionen – der kurzen von 1978 (damals wurde die UNIFIL gegründet) und jener von 1982. Mehr noch: Das unheilvolle Regime Khomeini ist auch das Resultat einer unheilvollen anglo-amerikanischen Iranpolitik, die 1953 den Premier Mohammed Mossaadeq stürzte, weil dieser das iranische Öl verstaatlichte (was Saudi Arabien und andere arabische Ölländer später auch taten, allerdings ohne Strafaktionen des Westens). Schon Nelson Mandela stellte im September 2002 zu Recht fest: »Die Vereinigten Staaten haben ernsthafte Fehler in der Führung ihrer Außenpolitik gemacht. […] Denn die unqualifizierte Unterstützung des Schahs führte direkt zur Islamischen Revolution von 1979.«

Die Machtübernahme des heutigen Regimes in Teheran und die Entstehung der Hisbollah sind also auch auf eine verfehlte amerikanische und israelische Politik zurückzuführen. Avi Primor hat in einem Aufsatz in der SZ darauf hingewiesen, wie viele gemeinsame Interessen Israel und der Iran zu Zeiten des Schahs hatten und dass Israel sogar dabei war, eine iranische Rüstungsindustrie aufzubauen. Seine Feinde von heute hat man sich also selbst mit herangezüchtet. Amerikanische und israelische Politiker haben dazu beigetragen, dass in Teheran ein Regime an die Macht kam, welches einen unakzeptablen Kampf gegen Israel begann und sich dazu im Libanon eine Organisation wie die Hisbollah zu Nutze macht.

Dennoch: Hassan Nasrallah ist kein politisch unmündiges Werkzeug des iranischen Regimes. Intime Kenner der Hisbollah wie der langjährige, heute pensionierte UNIFIL-Chef Timor Goksel reduzieren das Verhältnis Iran-Hisbollah keineswegs auf eine Herr-Diener-Beziehung: »Die Führung der Hisbollah hat eine beträchtliche Autonomie, wenn es darum geht, Entscheidungen zu fällen; auch darf man interne dynamische Prozesse nicht außer Acht lassen.« Goksel geht sogar soweit zu argumentieren, dass die Aktion der Hisbollah weder im Interesse Syriens, noch der des Iran gelegen habe: »Warum sollte Teheran eine Trumpfkarte wie die Hisbollah gerade jetzt aufs Spiel setzen, da es im Konflikt mit den USA liegt? Ich glaube, es gibt eine Menge Leute in der Hisbollah, die sich fragen: Warum jetzt?«

Wie immer die Antwort auf diese Frage lauten mag – die Israelis fassten den Hisbollah-Angriff als willkommene Vorlage auf. Der der Hisbollah erklärte Krieg, schrieb Alain Frachon in Le Monde, diene dem strategischen Ziel, zu verhindern, dass sich die Islamische Republik Iran als prägende Macht im israelisch-arabischen Konflikt etabliere. Er mag aber auch die Absicht verfolgen, das syrische Regime, das Jahrzehnte die Geschicke des Libanon bestimmte, endgültig auszuschalten. Anzumerken wäre, dass Israel einst aus ähnlichen Motiven gegen die PLO Krieg geführt hat und diese 1982 aus dem Libanon nach Tunis vertrieb – und sie doch nicht besiegte. Auch die Hamas wurde durch Israels Schläge zwar militärisch geschwächt, politisch aber nur gestärkt. Selbst ein militärischer Sieg gegen die Hisbollah würde Israel langfristig keinen politischen Sieg bringen. Im Gegenteil: Die Zerstörungen im Libanon erzeugen neuen Hass gegen Israel und legen daher die Grundlage für die Fortsetzung des Kampfes gegen Israel – wer auch immer diesen dann führen wird.


Aufrüstung der Fundamentalisten

Präsident George Bush und seine Außenministerin ordnen die neue Libanon-Katastrophe in ihren »globalen Krieg gegen den Terror« ein. Diese Sicht entspricht ihrem simplen Weltbild, in dem die Ursachen des Islamismus kaum jemals analysiert werden. Andere, wie etwa Yitzhak Rabin, zogen aus dem wachsenden mehr und mehr islamisch geprägten Widerstand gegen die israelische Besetzung sinnvollere Lehren als die Fortsetzung des Krieges. Ein wesentlicher Grund, warum er mit der PLO Jassir Arafats die Verträge von Oslo schloss, war die Absicht, dem von ihm zu Recht befürchteten weiteren Erstarken des Islamismus vorzubeugen. Condoleezza Rice, die »zerzauste Ikone«, ist aber nicht so weitsichtig. Sie bleibt dabei, dass die Ursache des Problems allein die Hisbollah sei. Dabei musste sie sich von ihrem alten Mentor Brent Scowcroft, einst Sicherheitsberater unter Bush senior, darüber belehren lassen, dass die Wurzeln etwas tiefer lägen: »Die Quelle des Problems ist nicht die Hisbollah. Das ist nur ein Ableger der Ursache, nämlich des tragischen Konfliktes über Palästina, der 1948 begann.«

Unglücklicherweise wird diese amerikanische Politik durch eine unselige Ideologie gedeckt – durch jene der wieder geborenen Christen, zu denen sich auch George Bush zählt. Für sie ist der neueste Nahostkrieg »Auftakt und Vorbote der Schlacht von Armageddon« und damit »Vorbote für die glorreiche Rückkehr Christi«. Vor allem die Rückkehr der Juden nach Israel gilt ihnen als »eindeutiges Zeichen, weswegen amerikanische Protestanten wie Jerry Falwell das israelische Staatsgründungsdatum des 14. Mai 1948 als wichtigstes historisches Datum seit der Geburt Christi ansehen.« Aus diesem Grunde stimmten inzwischen mehr amerikanische Protestanten als Juden dem Krieg Israels gegen die Hisbollah zu.

Kein Wunder, dass auch in der arabischen Welt die Zahl der Fundamentalisten weiter wächst. »Nasrallah im Pantheon der arabischen Sache« titelte die französische Zeitung Liberation: »Nasser in Ägypten, Saladin in Syrien«, heißt es in dem Bericht, »jeden Tag beten Dutzende Syrer am Grab des Befreiers von Jerusalem, damit sich seine Siege bei seinem Nachfolger wiederholen.« Mit Saladins Nachfolger ist natürlich Hassan Nasrallah gemeint. Sogar der syrische Präsident Baschar al-Assad sonnt sich im Erfolg Nasrallahs; seine Poster werden neben denen seines Vaters und Nasrallahs durch die Straßen getragen. Dass auf diese Weise Regierung und Volk in einem entscheidenden Thema der gleichen Meinung sind, stellt jedoch die Ausnahme in der arabischen Region dar. Im Irak, wo der von den USA bewirkte Regimewechsel nicht die erhofften Ergebnisse gezeitigt hat, protestierten Hunderttausende von Schiiten, angeführt vom radikalen Prediger Muqtada al-Sadr, gegen Israel und die USA. In Jordanien, Ägypten und Saudi Arabien steht die Bevölkerung auf der Seite der Hisbollah, die Regierungen aber winden sich in ihrer Politik. Anfangs gaben sie der Hisbollah die alleinige Schuld am Krieg. In Saudi Arabien fürchtete das Regime eine Mobilisierung der schiitischen Minderheit (etwa zehn Prozent der Bevölkerung). Und in Ägypten befürchtet das erstarrte Regime Mubarak, der Kampf von Hamas und Hisbollah könnte den Muslimbrüdern im eigenen Lande neuen Auftrieb geben.

Inzwischen mussten die Regime ihren Massen etwas Raum geben. Saudi Arabien verurteilte die Angriffe Israels im Libanon (wohl auch deshalb, weil das Königshaus beim Wiederaufbau sicher zur Kasse gebeten wird). In Ägypten erlaubte das Innenministerium, das sonst fast jede Demonstration untersagt, Proteste gegen Israel. Und in Jordanien blieb König Abdallah keine andere Wahl, als die Israelis zu ermahnen, dass ihre Aktion die Probleme nicht lösen werde.


Israelische Existenzfrage – das Existenzrecht Palästinas

Wo aber liegt, angesichts der allgemeinen Eskalation, der Ausweg aus der Katastrophe? Israel argumentiert, es habe sich freiwillig aus dem Südlibanon und aus Gaza zurückgezogen, dennoch werde es an beiden Fronten angegriffen und somit regelrecht zur Verteidigung gezwungen. Zweifellos hat die Hisbollah den Südlibanon, mit Hilfe aktiver Unterstützung des Iran und Syriens, zu einem Staat im Staate gemacht – und damit beiden Staaten eine gegen Israel gerichtete Plattform im Libanon verschafft. Israel sieht darin, nachvollziehbarerweise, einen feindlichen Akt.

Anders steht es mit Gaza. Der israelische Rückzug ist nie mit einem umfassenden Friedensangebot verbunden worden. Zu einem Friedensangebot hätte zumindest auch das Versprechen einer Räumung aller Siedlungen im Westjordanland gehören müssen. Der Gazarückzug geschah jedoch aus militärischer Notwendigkeit. Es wurde auf die Dauer schlicht zu teuer für Israel, 1,3 Millionen feindlich gesinnte Palästinenser militärisch in Schach zu halten. Doch ungeachtet des Rückzugs: Gaza bleibt ein Gefängnis, bewacht von Israel, abgeschnürt von der Welt, bar jeder Chancen für seine Einwohner, eine auch nur eine gemäßigt optimistische Lebensperspektive zu entwickeln.

Der schmale, vom Meer her überwachte und zum Nachbarn Israel durch einen Zaun abgeschnürte Küstenstreifen kann nichts anderes sein als ein Brutherd der Verzweiflung – und dessen, was wir uns »Extremismus« zu nennen angewöhnt haben. Die entscheidende Ursache für den Libanonkrieg und die meisten Nahostkriege zuvor liegt darin, dass Israel, Europa und die USA den Palästinensern niemals die Möglichkeit zum Aufbau eines eigenen, wirklich lebensfähigen und unabhängigen Staates geboten haben. Im Gegenteil: Amerika und Europa haben über Jahrzehnte tatenlos zugesehen, wie Israel – völkerrechtswidrig – jene 25 Prozent des ursprünglichen Palästina mit Siedlungen zupflasterte, welche den Palästinensern nach 1948 noch verblieben waren und mit denen sich sogar Jassir Arafat zufrieden gegeben hatte. Zudem gerät immer wieder in Vergessenheit, dass die Arabische Liga Israel mehrfach ein einleuchtendes Friedensangebot gemacht hat – zuletzt durch den damaligen saudischen Kronprinzen und heutigen König Abdallah auf der Arabischen Gipfelkonferenz von Beirut 2002: Rückgabe der 1967 besetzten arabischen Gebiete gegen Anerkennung Israels.

Das Problem des Nahen Ostens ist also nicht die Existenz Israels. Das Problem besteht darin, wie sich der Staat in seine arabische Umgebung einordnet – ob als Partner oder als regionale Vormacht. Als (zukünftiger) Partner ist Israel von den meisten arabischen Staaten seit langem de facto akzeptiert. Und auch dem Iran, der Hisbollah und der Hamas wird nichts anderes übrig bleiben, als sich dereinst mit der Existenz des jüdischen Staates abzufinden – wenn dieser auf sein Vormachtstreben verzichtet. Was augenblicklich im Libanon geschieht, ist dagegen völlig kontraproduktiv. Die abgeworfenen Bomben sollen Israels dominierende Position stärken; den erforderlichen Prozess einer Annäherung werden sie, wieder einmal, in unerträglicher Weise verlängern.

Was nötig ist, um den Konflikt zu beenden, hat Judith Bernstein, Mitglied in der Organisation »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost«, in deutlichen Worten wie folgt formuliert: »Nur ein souveräner lebensfähiger Staat Palästina kann die Existenz des Staates Israel in Frieden dauerhaft garantieren. Wenn dieser nicht weiterhin als Fremdkörper in der Region wahrgenommen werden soll, müssen aus der heutigen Konfrontation mit der Hisbollah entsprechende Konsequenzen gezogen werden. Ein Ende des asymmetrischen Verhältnisses der Palästinenser zu den Israelis würde auch ein Ende der asymmetrischen Gewalt nach sich ziehen. Die Geschichte Israels und Palästinas belegt seit 1948 unmissverständlich: Durch Krieg und Zerstörung kann ein dauerhafter Frieden nicht erzielt werden, vielmehr haben sie den Menschen neues Leid und neuen Hass gebracht.«


Der Artikel erschien zuerst in "Blätter für deutsche und internationale Politik"

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