"Der Traum ist in Reichweite", so dröhnt es aus der Kiste, so quillt die Neujahrsansprache einer Kanzlerin in das jeweilige Wohnzimmer. Mutter hol den Sekt raus, die Merkel redet, sagt Heinz, und dann sitzen sie vor der Glotze und staunen. Denn Merkels Traum ist ein ausgeglichener Haushalt! Unser Haushalt ist schon lange ausgeglichen, sagt Mutter, am Monatsanfang wenig und am Ende nichts, das ist der Ausgleich, fällt dem Mann ein, Null zu Null.
Ich hab Dir ja gesagt, meint Vater, unser Kevin kriegt eine Chance, die Merkel will "alles daran setzen, den Jugendlichen zu helfen, die in den letzten Jahren keine Chance hatten." Ja, wenn die Merkel das sagt, meint Mutter, der kann man trauen: Mehr Mehrwertsteuer versprochen und gehalten, das Klima ist auch schon ganz anders. Und mit Chancen hat sie es: "Chance zum Aufstieg, Chance zur Teilhabe, Chance was zu erreichen." Was die damit wohl meint, fragt Vater: Also mein Verein steigt schon mal auf, beim Arbeitsamt werd ich Teilhaber, so lange wie ich schon bei denen bin! Nur bei der Rente habe ich wohl keine Chance - zu wenig eingezahlt. Mensch, ist ja wie beim Blei gießen!
Hör doch mal zu, die redet über uns: "Zu verständlich sind auch die Sorgen, die sich viele von Ihnen zum Beispiel wegen der hohen Preise bei Energie und Lebensmitteln machen." Das ist irgendwie rührend, sagt Mutter während sie verstohlen eine Träne wegwischt, wahrscheinlich sitzt sie da in Berlin, Heizung runter gedreht und hat schon wieder Nudeln mit roter Soße. Deshalb will sie auch alles reformieren: Die "Erbschaftssteuer", da haben wir ja weniger Last mit, die "Lohnuntergrenzen", meint sie jetzt runter oder rauf? Egal, auf alle Fälle ist sie für eine "wirkungsvolle Schuldenbremse", das soll sie mal unserer Bank sagen, regt sich Vater auf und gießt Sekt nach.
Aber dass "Deutschlands Ansehen in den letzten zwei Jahren in der Welt spürbar gemehrt" worden ist, das stimmt ja wohl, weiß Heinz. Meinst Du, wir könnten uns auch mal wieder die Welt ansehen, fragt Mutter, und während Heinz dazu nichts einfällt, redet die Frau im Kasten immer weiter und dankt schon den Soldaten, immerhin sehen sich die die Welt an, und weil man da "geliebte Menschen" verlieren kann, denkt die Kanzlerin "gerade in dieser Stunde ganz besonders" an die mit den Verlusten und Heinz denkt, warum fahren die auch dahin, aber dann hebt die Frau den Blick und beschwört "die Kraft des Zusammenhalts, der Starken und der Schwachen, des Unternehmers und seiner Mitarbeiter" und Heinz und Gerda sind richtig gerührt, trinken den Rest Sekt und ein Jahr ist gleich wieder rum.
Ich hatte auch mal einen Traum in Reichweite. In dem wuchs der Frau im Fernseher bei jeder Lüge die Nase um fünf Zentimeter. Bei dieser Rede habe ich mitgezählt: Nur ein Loch in der Wand hätte ausreichend Platz schaffen können.