Die Kommentare, die Feuilletons, sie alle loben die Bürgerlichkeit der Gesine Schwan, ihren Stil, ihre Bildung, ihr sicheres Auftreten und ihren Antikommunismus. Um welche Bürgerlichkeit mag es sich handeln, die dort gelobt wird. Es gab und gibt, manchmal in der SPD, manchmal draussen, den "Bürger Grass", den engagierten politischen Schriftsteller, der seine Bürgertugend immer als ein Eingreifen verstand, eine Widerständigkeit, die ihm als Reflex zu eigen ist. Doch Grass will nicht Bundespräsident werden. Gesine Schwan will es und möglicherweise kann sie es auch. Ihr Anspruch will deshalb sorgsam untersucht werden. Der letzte bekannte Widerspruch der Frau Schwan war jener, als sie ihrer Partei, der SPD, vorwarf, mehr mit den Herren der verblichenen sozialistischen Regime zu reden und weniger mit deren Opposition. Andere Einwürfe in die gesellschaftliche Debatte wurden nicht bekannt. Wer oder was ist Frau Schwan, hinter den sorgfältig gelegten Locken und dem großen, vereinnahmenden Lächeln?

Wer sie selbst über Bürgertugenden reden lässt, der erhält Sätze wie den folgenden: "Diese Bürgerschaft kann nicht einfach kognitiv gelernt, nicht antrainiert werden, sondern bedarf einer psychischen Verankerung. Sie erfordert Selbst- und Fremdvertrauen, Selbstsicherheit – im psychoanalytischen Drei-Instanzen-Modell könnte man sagen: Ich-Stärke –, die wir vor allem in der Familie gewinnen oder verlieren, und die ihre Bestätigung im Alltag braucht.« Wer aus diesem Satz hinaus geht, ist fast so klug als wie zuvor. Also soll er übersetzt werden: Wer oder was ein Bürger ist, das sagt sie nicht. Aber dass diese Eigenschaft erlernbar sei bezweifelt sie. Der Hinweis auf die Familie hilft ein wenig der verwischten Spur zu folgen, die Gesine Schwan legt: Die katholische Tochter aus gebildetem Haus setzt auf die engere Umwelt, jene, die weniger über das Denken und Lernen Erkenntnisgewinne schafft, sondern die eher über Vorbild und Nachahmung fördert. Also ist das Bürgertum irgendwie naturwüchsig, ist aus sich heraus gut. Aber auf was kann das deutsche Bürgertum stolz sein, wo war es, wo wäre es vorbildlich gewesen? Selbst bei Ausblendung der Zeit vor 1945 findet man eher Kümmerliches: Das Beharren auf Gewohntem - sei es im Privatem, der Rolle der Geschlechter zum Beispiel, sei es im Gesellschaftlichen, den Zuwanderern ihren Platz zu verweigern zum Beispiel - spiegelt das Biedermeier in denen, die sich zum Bürgertum rechnen.

Die neue Bürgerlichkeit, und natürlich meint und erhofft das lobende Feuilleton genau diese Kategorie, ist fast die alte. "Leistungsbereitschaft. Toleranz. Disziplin, Stil, Kultiviertheit «, so erklärt uns Guido Westerwelle, der Star neuer Bürgerlichkeit, die Tugenden der Bürger. Von Toleranz war zu Zeiten nicht die Rede, aber Leistung und Disziplin war und ist völlig wertneutral, mit Fleiß kann man Morden oder Leben retten, mit Disziplin kann man anderen Ländern Waffen senden oder Hilfsgüter. Vom kultivierten Soldaten weiß man, dass er die Museen und Cafés besetzter Länder fast so sehr schätzt wie die eigenen. Von Solidarität, Mitgefühl oder gar Gerechtigkeit spricht der stilsichere Bürger nicht: Wem sollten solche Eigenschaften nutzen, wenn der gewöhnliche Mensch doch weiße Socken zu schwarzen Schuhen trägt? Doch reden wir mit Frau Schwan, nicht über sie: "Vertrauen ist die kulturelle Nahrung, ohne die eine Demokratie verkümmert", sagt die Kandidatin, aber sie sagt nicht in wen oder was wir vertrauen sollen. Mit einem weiteren ihrer, immer frisch und klar klingenden, aber ziemlich glatten Sätzen, erklärt sie schon ein wenig mehr: "Wenn man die Erwartung nach einer Einteilung in ‚Die Politiker da oben’ und ‚Wir hier unten’ bedient, dann vergrößert man die Distanz zur Demokratie." Hat sie gesagt, es gäbe kein Unten oder Oben? Hat sie nicht. Aber eine Politik, die mit der Erkenntnis von Unten und Oben arbeitet, die ist, nur so kann man es übersetzen, der Demokratie feindlich. Lass´ uns also nicht über die immer größer werdende Distanz von Arm und Reich, von Entscheidern und Entschiedenen, von Bestimmern und Bestimmten reden, das bedient nur, wie eklig, jene, die Widerspruch empfinden und ihn ändern wollen. Nur so ist der Text der Kandidatin zu lesen.

Doch dort, wo es ihr politisch opportun erscheint, kann man von der Kandidatin auch den eher seltenen Klartext lesen: Von "diffusen Antikapitalisten" und "national beschränkten Sozialisten" spricht Frau Schwan, wenn sie die LINKE bewertet, jene Partei, deren Stimmen ihr die Wahl zur Bundespräsidentin sichern könnten. Natürlich kann die Sozialdemokratin die LINKE nicht besser finden als ihre eigene Partei, man konkurriert, da lobt man nur sich selbst. Aber die LINKE mit dem üblichen Populismus-Vorwurf abzuwatschen, statt sie als Ausdruck der sozialen und politischen Misere der Bundesrepublik zu begreifen, das ist verstockt. Das zeugt entweder von mangelndem Begreifen oder von Besitzstandswahrung: Denn wer die LINKE diffamiert, so der Glaube, der kann sie von den Posten abhalten, auf denen die anderen doch traditionell sitzen. Die Antwort auf die Frage, wie sie es denn mit den deutschen Truppen in Afghanistan halte, reicht allerdings weit über die Pöstchenfrage hinaus: "Ich will nicht um Stimmen buhlen auf Kosten der eigenen Überzeugung.« Wieder mag Frau Schwan nicht klipp und klar sagen, was sie denkt. Sie hält den Deutschen eine "Überzeugung" entgegen, das klingt offen und ehrlich. Wovon sie überzeugt ist und wie lange deutsche Soldaten ihrer Überzeugung nach in Afghanistan bleiben sollen, das mag sie uns nicht verraten.

Einer der schönsten Sätze von Gesine Schwan ist einer über das Geschlechterverhältnis: "Es ist unschwer zu erkennen, dass zur Bürgertugend zunehmend Kompetenzen gehören, die eher weiblicher als männlicher Sozialisation entspringen." Immer, wenn die Tugend mit der Kompetenz wedeln muss, geht es ihr schlecht. Denn eine wie immer geartete Tugend, sei es jene der Ehrlichkeit oder die der Wissbegierde, ist eine Eigenschaft an sich, sie mit Kompetenzen, mit Zuständigkeiten auszustatten, macht sie nicht besser, nur geschwollener. Wieder verlangt der Schwansche Satz eine Übersetzung ins Ehrliche: Frauen können es besser, meint sie. Das Bürgerliche, die Politik, das Regieren, Frauen sind dafür besser geeignet. Deshalb wäre die Wahl der Gesine Schwan zur Bundespräsidentin ein durchaus pädagogischer Kompromiss. Denn mit einer zweiten Frau, nach Angela Merkel, an der Macht, könnte sich die Erkenntnis vertiefen, dass Frauen an der Macht genau so schlecht sein können wie Männer, dass es also nicht darauf ankommt, die Geschlechter zu wechseln, sondern auf einen Wechsel der Inhalte, auf eine Änderung des Charakters der Macht. Man sollte den Deutschen die Chance zu dieser Erkenntnis nicht verweigern.