Die Russen drohen wieder: Kaum eine Zeitung, keine Nachrichten-Sendung mochte in den letzten Tagen auf diese beliebte Formulierung verzichten. Zwar wurde um 1990, nach dem Verschwinden des Sozialismus, triumphierend das Ende der Geschichte verkündet und der weltumspannende Kapitalismus als Heils- und Friedensbringer ausgerufen, aber irgendetwas hat nicht geklappt. Denn die Russen, die früher auch gerne Sowjets genant wurden, die drohen angeblich wieder. Das es alles auch ganz anders sein könnte, das fällt dem jeweiligen Redakteur nicht ein. Er müsste ins Archiv, müsste mit jemandem sprechen der Ahnung hat, müsste gar selber denken, da schreibt er doch lieber bei der Deutschen Presse Agentur ab, da weiss er was er hat: Die gewöhnlich schlicht formulierte Lüge. Denn die Russen drohen nicht, sie wehren sich.

Wer mag schon Putin? Seine Frau, darf man annehmen, seine Kumpels in der Oligarchie, der korrupte Jelzin-Clan, dem er Straffreiheit zugesichert hat und die nicht unbeträchtliche Zahl von Russen, die ihn gewählt haben. Die russische Wahlatmossphäre, vom aufgeblähten Popanz des tschetschenischen Terrorismus geprägt, erinnerte stark an die letzten Wahlen in den USA. Allerdings muss man dem russischen Präsidenten zugute halten, dass seine Truppen weder in Afghanistan, noch in Ex-Jugoslawien, noch im Irak herumstehen, um die Interessen Russlands durchsetzen. Auch beabsichtigen die Russen keineswegs, Raketen im Glacis der USA zu placieren, obwohl sich Cuba seiner Grenznähe zu den USA wegen ebenso anböte, wie sich Polen für die USA wegen seiner Nähe zu Russland so günstig anbietet. Ob man also Putin mag oder nicht: Das von ihm geführte Land ist als alles mögliche, aber nicht als internationaler Friedensstörer zu qualifizieren.

Trotzdem, so liest es sich in der "Frankfurter", der "Süddeutschen", so hört man es in den TV-Nachrichten, die Russen drohen damit den "KSE-Vertrag" den Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa auszusetzen. Das ist eine sonderbare "Drohung". Denn ausser den Russen hat keiner den Vertrag ratifiziert. Die NATO-Staaten, der andere Partner des "KSE-Vetrages", haben den Vertrag bisher nicht unterzeichnet. Also "drohen" die Russen damit, einen Vertrag, den sie bisher nur mit sich selbst geschlossen haben, nicht anzuwenden. Aber, so sagen die verängstigten Herren in den NATO-Stäben, wir würden ja den KSE-Vetrag sofort ratifizieren, wenn die Russen ihre Truppen aus Georgien und der Moldawischen Republik abzögen. Und weise nickt der Redakteur: Siehste, drohen sie also doch, die Russen.

Georgien, Moldawien, das liegt wieder so weit weg, quengelt die Redaktion, da kennen wir gar keinen den wir anrufen können. Und es kommt noch schlimmer, denn tatsächlich werden diese Länder nicht von russischen Truppen bedroht, die stehen deshalb dort, weil sich noch unbekanntere Länder (Südossetien von Georgien und Transnistrien von Moldawien) selbstständig machen wollen. Um der Redaktion behilflich zu sein: Es handelt sich um eine Art Kosovo-Problem, die Kossovaren wollen sich ja auch von Jugoslawien trennen und da ist die NATO dafür. Aha, oder wie? Es wäre, wenn man ins Archiv ginge, ganz einfach: Während das jugoslawische Serbien nicht in die NATO will, wollen Georgien und Moldawien sich dringend der NATO anschließen und die NATO hätte schon Lust, wenn die Russen nicht immer drohen würden. Also doch? Die Redaktionskonferenz geht zweifelnd in die Pause, wie sage ich es meinem Leser, meine Zuhörer? Am besten so: Was die NATO macht ist gut. Was die Russen machen ist böse. Wenn die NATO Truppen irgendwohin reist, werden die jeweiligen Völker befreit, wenn der Russe seine Truppen dort stehen lässt, wo sie vor dem Zerfall der Sowjetunion waren, dann ist das Unterdrückung.

In Estland stehen keine russischen Truppen. In Estland stand bis vor ein paar Tagen eine zwei Meter großer Bronze-Soldat. Um ihn herum waren tote Sowjetsoldaten beerdigt. Die waren während der Befreiung Estlands von deutschen Nazi-Truppen gefallen. Befreiung durch Russen? Das widerspricht aber dem Redaktionsstatut in dem geschrieben steht: Nur NATO-Truppen befreien irgendwelche Völker, gleich wie lange sie auf deren Boden herumtrampeln. Und tatsächlich hat sich keine kleine Menge von Esten damals, als die Sowjetsoldaten 1944 dort einmarschierten nicht befreit gefühlt. Denn nicht wenige Esten waren am Genozid der Deutschen beteiligt: Der Mord an Juden und anderen Untermenschen konnte in den estnischen Vernichtungslägern gut von den Eiheimischen organisiert werden, denn die Esten galten, anders als die Polen und Russen, nicht als Untermenschen. Und so konnte sich der estnische Obermensch über den Einmarsch der Russen nicht so richtig freuen. Wohl deshalb haben die estnischen Behörden jüngst das sowjetische Ehrenmal bei Nacht abmontieren lassen. Denn so ein Russe, selbst wenn er aus Bronze ist, kann ganz schön bedrohlich wirken.

Die alten Reflexe kehren zurück. Auch wenn die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion längst der bezaubernden kapitalistischen Staatengemeinschaft angehören, die Interessenlagen haben sich nur wenig geändert. In Georgien geht es um eine Pipeline. Rund um Russland geht es um die Frage, ob die USA, die letzte verblieben Supermacht, die früher gleichwertige Macht militärisch umzingeln darf. Deshalb fühlen sich die Russen zu recht bedroht. Und damit das dem deutschen Medienkonsumenten nicht auffällt, wird das alte Russland-Klischee aufgewärmt. Das halten sie für schlau in den Redaktionen.

Kommentare (0)

Einen Kommentar verfassen

0 Zeichen
Leserbriefe dürfen nicht länger sein als der Artikel
Anhänge (0 / 3)
Deinen Standort teilen
Gib den Text aus dem Bild ein. Nicht zu erkennen?
Bisher wurden hier noch keine Kommentare veröffentlicht