Im Frühjahr waren die Blätter der Kastanie vor meinem Fenster noch saftig grün. Jetzt, noch bevor der Baum Früchte tragen könnte, sind die Atemorgane des angejahrten Riesen voller großer, gelblicher Flecken. Die Minier-Motte, ein sehr kleines Insekt, früher in Deutschland unbekannt, hat sich seit ein paar Jahren die Blätter des Baumes zur Speise erkoren. Die Unterminierung begann still und heimlich. Die Motte lärmt nicht. Und zu Beginn sind die Flecken eher unscheinbar. Auch treibt der Baum Jahr für Jahr wieder, als wäre ihm nichts geschehen. Wenn man die Motte gewähren lässt, sagen die Botaniker, werden die Kastanien auf Dauer Schaden nehmen.

Ähnlich bescheiden wie die Minier-Motte, fast unaufwendig, nimmt sich der »European Council on Foreign Relations« aus. Schon der Name der Organisation hat einen seriösen Klang: Ein Rat für Auslandsbeziehungen, der sich freiwillig der »Europäischen Union« zur Verfügung stellt, so ein Rat kann doch nur nützlich sein. Rund fünfzig prominente Europäer, ehemalige Premierminister, Parlamentarier und Intellektuelle bilden den Rat der Freiwilligen. Da der Rat so selbstgenügsam und unauffällig ist, fragt man, was einem seine Mitglieder sagen könnten.

Da ist zum Beispiel das Ratsmitglied Brian Eno, ein Repräsentant des Glam-Rock, der seine Auftritte gerne mit Federboa, Plateauschuhen und Glitzertüchern garnierte. Warum nicht der engagierte Bono oder der politisierende Herbert Grönemeyer? Mabel van Oranje, ein weiteres Ratsmitglied, Frau des niederländischen Prinzen Johan Friso, wurde durch ihre enge Beziehung zum bosnisch-amerikanischen Rechtsanwalt und früheren bosnischen Außenminister Muhamed Sacirbey bekannt, der 2003 wegen Betrug angeklagt wurde. Gab es in Europa keine unbelastete Prinzessin mehr? Christine Ockrent, eine einflussreiche französische Journalistin, ist nicht nur Ratsmitglied sondern auch die Frau von Bernard Kouchner, dem französischen Außenminister. Ein Schelm der Zufälliges dabei denkt.

Doch nicht nur die Garnierung mit einer Sorte von Talmi-Intellektuellen gibt dem Rat einen gewissen Hautgout. Die Zahl der Ehemaligen - der Hannes Androsch, der Joschka Fischer oder Chris Patten - im Rat ist Legion. Wenn dann noch Martti Ahtissari (ehemaliger finnischer Staatspräsident) auftaucht, der mit seinem ›Ahtissari-Plan‹ gegen den erbitterten Widerstand Rußlands und anderer Nationen für die Unabhängigkeit Kosovos von Serbien verantwortlich zeichnet, ist die Serie der EU-Bellizisten ziemlich komplett. Von Joschka Fischer, dem Gründungsmitglied des Rates, sagt man, die Organisation sei sein Sprungbrett für den Job des europäischen Aussenministers. Und von Fischer stammt auch die jüngste Feststellung, die EU befinde sich in einem militärischen »Tiefschlaf«.

Den Tiefschlaf gönnt Fischer natürlich weiterhin den europäischen Bürgern. Nicht sie sind der Adressat seiner Ratschläge. Sein Think-Tank ist, wie der gleichnamige amerikanische Council, ein Einfluss-Rat für aktive europäische Politker und hohe EU-Beamte. Ihnen gilt der scheinbar harmlose Satz: »Wir müssen die Realität Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten bei der Verteidigung anerkennen». So stellte Fischer eine Studie des »European Council on Foreign Relations (ECFR)« vor, die sich für eine europäische Verteidigungs-Avantgarde stark macht.

Es ist kein Genuss, die Sprache Fischers zu filetieren und sie auf dem Grill der Verständlichkeit zu garen, es ist die unangenehme Pflicht der Wahrheitsfindung und von schlechtem Geruch begleitet: Nahezu alle EU-Staaten gehören dem ursprünglichen Verteidigungsbündnis NATO an. Gäbe es also einen Verteidigungsfall, gäbe es auch eine ziemlich einheitliche Geschwindigkeit der Verteidigung. Doch noch zuvor: Gegen wen muss sich die EU verteidigen? Gegen Liechtenstein? Gegen Island? Oder ist es einmal mehr »Der Russe», jenes Gespenst, das es in den letzten sechzig Jahren, im Zusammenhang mit dem Westen, nie über die Rolle des Gerüchtes hinausgebracht hat? Es ist, folgt man der Studie des ECFR, die Fischer kommentierte, der Tschad oder der Kongo, die der europäischen Verteidigungsgeschwindigkeit bedürfen.

Etwa 70 Prozent der europäischen Landstreitkräfte, kritisiert die Studie, seien nicht in der Lage, außerhalb der Landesgrenzen zu agieren. Solcherlei Informationen versenden die Nachrichtenagenturen, und die Medien geben es im Kleingedruckten weiter oder gar nicht. Ein Kommentar, der auch nur die Frage stellt, was denn daran falsch sei, ist nicht zu lesen oder zu hören. Im Stab des ECFR arbeitet Nick Witney als Senior Policy Fellow. Er ist Autor der Studie. Es ist noch nicht lange her, da war Witney Chef der »Europäischen Verteidigungsagentur«. Der Agentur obliegt die Koordination der europäischen Rüstung, immerhin spendieren die EU-Staaten fast ein Viertel der weltweiten Rüstungsausgaben, das will organisiert sein. Dass der Koordinator jetzt zum Berater wird, dass er die Geschwindigkeit erhöhen will mit der die EU demnächst im Tschad oder in Kongo eingreifen wird, das ist den Medien kein Grund zur Aufregung.

Die Miniermotte ist in Mitteleuropa eine relativ neue Erscheinung. Erst mit dem Klimawandel hat sie in Ländern wie Deutschland auftreten können. Wer sich an die alte Bundesrepublik erinnern kann, der wird auch im öffentlichen Bewusstsein einen Klimawandel feststellen: Während der Jugoslawienkonflikt noch von Geräuschen des Bedenkens und des Protestes begleitet wurde, gehören Auslandseinsätze der Bundeswehr heute zur Nachrichtenroutine. Warum eigentlich, fragt sich der interessierte Beobachter, sind wir, im Verein mit anderen EU-Streikräften, noch nicht in der Republik Südossetien? Die ist auch nicht weiter weg als der Tschad und liegt, wie viele der Länder, die der erhöhten europäischen Verteidigungsgeschwindigkeit bedürfen, nicht weit von einer Öl-Pipeline.

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