Liebe Bürgerinnen, liebe Bürger,

vielleicht haben Sie meine Regierungserklärung im Fernsehen mitbekommen und nichts verstanden. Das ist normal, ich verstehe mich manchmal selber nicht, wenn ich vor dem Bundestag rede. Deshalb erkläre ich Ihnen jetzt meine Rede, ganz persönlich und ganz einfach. Exklusiv für die RATIONALGALERIE, diese Hängevorrichtung für Missvergnügte.

Also, ich fange mal vorne an. Da benutze ich fünfmal hintereinander das Wort »überraschen« im Zusammenhang mit der neuen Regierung. Damit meine ich, dass die Große Koalition so eine Art Wundertüte ist: Was drin ist wird nicht verraten und wer die Tüte dann öffnet, der kann sein blaues Wunder erleben. Und dann habe ich auch von der »Schicksalsgemeinschaft« geredet: Das bedeutet, ich bin Ihr Schicksal, zumindest bis zur nächsten Wahl. Nur kurz danach habe ich daran erinnert, dass in Deutschland das Aspirin erfunden wurde und damit meinen ersten Schritt zur Lösung der deutschen Probleme benannt: Wenn es Sie um das Land schmerzt, werfen Sie doch was ein!

Wie finden Sie eigentlich das Motto meiner Rede: »Lasst uns mehr Freiheit wagen«? Das ist doch mal was anderes als der doofe Brandt-Spruch von mehr Demokratie, die gewagt werden müsse. Der wollte doch nur dem Volk, also Ihnen, um den Bart gehen. Ich sage klipp und klar: Mehr Freiheit von Arbeit, fünf Millionen sind nicht genug! Deshalb sollen die Alten auch länger arbeiten, demnächst bis ins 67. Jahr. Dann kommen die Jungen noch später an einen Arbeitsplatz, das ist die Freiheit die ich meine.

Etwas später rede ich dann auch von Gerechtigkeit. Natürlich meine ich nicht, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen kleiner werden soll, ich bin doch nicht blöd. Ich will gegen die Sozialschmarotzer vorgehen, die Leute die zwar keine Arbeit bekommen, aber auch einfach keine annehmen, weil sie lieber in der sozialen Hängematte rumliegen. Deshalb verspreche ich Ihnen: wir werden 4 Milliarden Sozialklimbim einsparen!

Wenn ich dann zum Thema Kultur komme, rede ich mal als erstes von der Kultur der Vertriebenen. Ja, haben sie gedacht, zu erst käme Bildung? Nee, die kommt zwei Seiten später. Also, wir werden in Berlin an die Vertreibung erinnern, das ist gerecht, überraschend, kulturell und eine gewagte Freiheit. Schließlich kann so ein »Zentrum zur Vertreibung« auch Arbeitsplätze schaffen, wenn es nur groß genug ist.

Auch die Erhöhung der Mehrwehrsteuer dient reineweg den Arbeitsplätzen. Lassen Sie sich nicht von den kleinlichen Einwänden irritieren, die Erhöhung wurde die Binnenkaufkraft schmälern und damit die Binnenumsätze und damit eher Arbeitsplätze abbauen. Lassen Sie sich lieber überraschen. Eine ähnlich rasante Logik gilt auch für die 24-monatige Probezeit bei Neueinstellungen. Ich selber habe gesagt: Das ist flexibel und unbürokratisch und ich muss es schließlich wissen, seit der Wende bin ich Parteifunktionärin, hatte immer einen Job, war praktisch unkündbar und ich habe, als Umweltministerin unter Kanzler Kohl, das Dosenpfand erfunden: Unbürokratischer geht es nun wirklich nicht!

Im letzten Drittel der Rede komme ich dann zur Bildung. Schon wieder eine Überraschung: keineswegs empfehle ich, dass wir uns an den Finnen, die in der PISA-Studie ganz vorne liegen oder an Polen, die an uns vorbeigezogen sind, orientieren. Wir machen einfach weiter wie bisher, sollen doch die anderen das größere Bildungspotential haben, wir sind nicht neidisch.

Manchmal kann ich mich auch nach gründlichem Lesen einfach nicht übersetzen. Da sage ich doch glatt: »Die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist ohne eine Energiepolitik nicht denkbar«. Meine ich, es gäbe mehrere Energiepolitiken? Oder, dass die Strompreise weiter steigen sollen? Oder lobe ich den RWE-Konzern, der zwar zu schwache Überlandleitungs-Masten aufstellt, aber dafür Wochen braucht, sie zu reparieren wenn sie umgefallen sind? Rätsel über Rätsel. Gar nicht rätselhaft ist die Stelle, wo ich meinen Vorgänger, den Schröder, wegen der Agenda 2010 als mutig preise und mich bei ihm "im Namen aller Deutschen bedanke". Zum einen weiß ich ganz genau, dass sich viele Deutsche für seine Agenda wirklich bedanken konnten, zum anderen will ich damit sagen, dass ich seine Politik einfach fortsetze, damit sich auch bei mir immer mehr Deutsche bedanken können.

Vielleicht haben Sie die Stelle, wo ich davon rede, dass die Türkei "möglichst eng an die europäischen Strukturen angebunden werden" soll, nicht so richtig kapiert. Ich will es mal mit einem Beispiel versuchen: Sie müssen sich Europa als einen Bauernhof vorstellen und jeder gute Hof hat einen Hund, der ist erstmal angebunden. Aber wenn die anderen Muselmanen uns nicht in Ruhe lassen, dann lassen wir eben den Türken los. Alles klar?

Manche von Ihnen haben mich schon direkt nach meiner Rede angerufen und gefragt, wo ich denn etwas über die Ankurbelung der Wirtschaft gesagt habe, sie hätten das wohl überhört. Das ist ein Irrtum, dazu habe ich nichts gesagt. Schließlich muss ich doch ein paar kleine Überraschungen für Weihnachten aufheben. Ich sage jetzt nicht, welche Weihnachten ich meine, so viel Freiheit muss sein.

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