Sehr geehrte Wähler, liebes Prekariat, geschätzte Deutsche,

ich bin nun lange genug im Amt. Nein, nicht wie Sie denken! Lange genug, um zu wissen, wie völlig egal Ihnen meine Neujahrsansprache ist. Selbst wenn Sie versehentlich Glotze oder Radio angeschaltet haben sollten, Sie hören nicht hin. Denn Sie denken: Ist ohnehin alles gelogen, was die Alte sagt. Ihr Weghören will ich an dieser Stelle einmal ausnutzen und alles das sagen, was unsereiner nie sagen darf, wenn er wieder gewählt werden will.

Mit was soll ich anfangen? Mit meiner Lust an der Außenpolitik, von der ich zwar nichts verstehe, die mir aber diese tollen Empfänge beschert, auf denen mir dieser Franzose immer die Hand ansabbert? Oder soll ich lieber über die zukünftige europäische Ratspräsidentschaft reden, wo ich auf den Fotos der versammelten Staatschefs immer in der Mitte stehen darf und diese zu engen Hosenanzüge trage? Am liebsten rede ich über unsere Marine, da klettere ich zu gerne auf U-Booten rum, lasse mich mit den blauen Jungs fotografieren und sehe richtig fesch aus. Also schön, zuerst über die Bundeswehr.

Dass wir immer noch in Afghanistan sind, ist wirklich toll. Wir sind da, weil wir auch was zu sagen haben wollen. Wer heutzutage sein Militär nicht durch die Welt schickt, der darf am Tisch der Großen einfach nicht mitreden. Na klar, das kostet hie und da mal einen Toten, aber selbst wenn Sie jetzt zuhören würden: Haben Sie Verwandte in der Truppe, oder, Gott behüte, bei diesen Afghanen? Na, sehen Sie. Ihnen ist das bisschen Blut genau so piepegal wie mir, nur dürfen wir das nicht offen bekennen. Sie haben doch auch so ein Gefühl von Weltmacht, wenn unsere Jungs mit ihren klirrenden Panzern durch ferne Länder fahren. Wenn mir jemand dumm kommt, diese Polen zum Beispiel, dann lade ich die mal zu einer Truppenschau ein, da können die mal gucken wer eine Armee hat, diese Tschenowskys.

Nächstes Jahr ist übrigens Handballweltmeisterschaft, da sitze ich dann wieder auf der Tribüne und klatsche. Eine wunderbare Abwechslung zu diesen ewigen Sitzungen mit Stoiber. Alle Kameras richten sich auf mich und nach dem Spiel gehe ich in die Spielerkabine und gratuliere oder tröste, wie eine echte Landesmutter. Ich gehe davon aus, dass wir alle schlagen werden und dann werden wir wieder mindestens Vizeweltmeister wie im letzten Jahr und dann kennt der Patriotismus keine Grenzen mehr und unsere Armee auch nicht. Es ist schon schade, dass ich mich damals gegen den Schröder nicht durchgesetzt habe, unsere Spieler, äh, Truppen, hätten den Irakern aber gezeigt, wo die Demokratie aufhört und der Terrorismus anfängt, oder umgekehrt.

Egal, wir sind Deutschland und da können sich die anderen mal eine Scheibe von abschneiden. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland in ihrer öffentlichen Form immer noch verschuldet ist, sehen die Zahlen im privaten Bereich ganz anders aus: 7,5 Billionen Euro sind im Besitz von Privatleuten, das ist Rekord! Ich kenne schon das leidige Gejammere über die sieben Millionen Unterschichtler, die von Hartz IV leben. Wenn ich auch sonst dem dicken Beck nichts abgewinnen kann, aber: Die sollen sich doch erst mal waschen! Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir: Da bricht eher die Welt zusammen als mein Deo. Ich habe einen Job, auch wenn ich mich nicht gerade überarbeite.

Mit mir ist der Wandel in die deutsche Politik und Geistesgeschichte gekommen. Früher sprach man von der "Generation Golf", heute wird über die "Generation Praktikum" geredet, das ist geradezu eine Paradigmenwechsel: Weg vom Materiellen, dem Besitz, dem Auto, hin zum Geistigen, zu einer lernenden Jugend, die ohne Geld zu höherem, einem Job zum Beispiel, strebt. Ich als Physikerin kenne mich aus: Die Daseinsform der Materie, also aller Existenz, ist die Bewegung. Na, so ein Praktikum kann den Jugendlichen ganz schön Beine machen, bald können wir auf den Kurzstrecken auch Weltmeister werden, oder aber im Bohren von dünnen Brettern.

Über Bildung wird allgemein viel zusammengeredet. Ich hab die meine ja noch in der DDR bekommen und was bin ich? Kanzlerin! Das will ich vorläufig auch bleiben, deshalb ist mir eine gewisse Verengung des Bildungszugangs ganz recht. Im Osten konnte ja fast jeder studieren, das verwischt natürlich die gottgewollten Unterschiede. In meiner Bundesrepublik ist die Chance der Kinder von Besserverdienenden auf einen Studienplatz rund acht mal höher als die von diesen ungewaschenen Unterschichtlern. Das soll uns mal einer nachmachen in Europa, die Polen jedenfalls kriegen das nicht hin, klar, da besteht das ganze Land ja aus Unterschichtlern.

Wissen Sie, was mir an meiner Politik am besten gefällt? Die Föderalismusreform! Das ist mal eine praktische Angelegenheit: Jedes Land kann machen was es will, ich bin für nix verantwortlich und kann in Ruhe ins Ausland fahren. Am lustigsten ist die Sache mit der Gesundheitsreform, ich sage immer, dass ich eine Reform will, die Einzelheiten interessieren mich natürlich nicht, dann kommt der blöde Stoiber und will was ganz anderes und keiner kann mir was, der ist schuld und die Ulla Schmidt legt einen neuen Entwurf vor, wir spielen Regierung, und dann kommt wieder der Stoiber, großartig.

Über den Horst Köhler kann ich mich nicht so amüsieren. Wer hat den denn aus der Sparkasse rausgeholt und in den Job als Bundespräsident gehoben? Ich doch. Schön, er drängelt auch auf Reformen und tatsächlich sind wir an einigen Postionen noch hinter den USA, bei denen ist die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer. Aber immer wieder tut der Köhler so, als ob er mehr zu sagen hätte als ich. Das muss aufhören.

Was nicht aufhören darf ist die Legendenbildung über die islamischen Selbstmordattentäter. Denn dann merkt keiner, dass wir, die Deutschen. die Weltmeister des Selbstmordattentates sind. Nicht nur, dass wir kein durchgängiges Tempolimit auf den Autobahnen haben und die Zahl tödlicher Unfälle infolge hoher Geschwindigkeiten Weltspitze ist. Auch die Rate der Lungenkrebskranken, ob durch Aktiv- oder Passiv-Rauchen, ist bei uns rekordverdächtig: Rauchen darf hier jeder wo er will, im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung versteht sich. Da werden Zahlen erfahren und erraucht, da können sich die schlampigen Islamis aber hinter verstecken.

Ich sehe und höre schon, jetzt sind die, die nicht abgeschaltet haben, eingeschlafen. Das muss meine beruhigende, gleichförmige Stimme sein, die das zuwege bringt. Wenn es demnächst eine Weltmeisterschaft im Schnelleinschlafen gibt... Aber jetzt muss ich aufhören, da hinten winkt einer. Ich hätte die Sendezeit überschritten, sagt der. Was der sich denkt, mein Sendungsbewusstsein ist allemal größer als mein Verstand, dem sollte dann gefälligst auch die Sendezeit angepasst werden.