In Verbindung mit „Corona“ lassen sich sozial- und kulturgeschichtliche Hintergründe erkennen. Politische Kontexte, soziologische und sozialpsychologische Zusammenhänge werden offenbar. Der folgende Beitrag will den ausschließlich auf das Virus fixierten Krisenhorizont erweitern und relativieren. Er macht deutlich, dass „Corona“, die Bezeichnung des Virus SARS-CoV-2, auf eine ganze Reihe von Bedeutungen verweist, die dem Geschehen zusätzliche Dimensionen verleihen. Diese sich zu vergegenwärtigen und zu verstehen erlaubt es, dem Starren auf die statistische Erfassung der existenziellen Einzelschicksale ebenso etwas entgegen zu setzen wie der panischen Reaktion (im doppelten Wortsinn) derjenigen, die als Regierende im Interesse von „Volksgesundheit statt Patientenwohl“ das politische Geschehen bestimmen und dabei Fehler machen.


Täglich berichten Zeitungen wie z. B. der in Bremen erscheinende Weser Kurier über „Akut Infizierte“, „Fälle insgesamt“, „Genesene“ und „Todesfälle“. Die Angaben auf der Titelseite beziehen sich auf die Bundesrepublik, auf Bremen/Bremerhaven und auf Niedersachsen. Es handelt sich um schlichte Zahlen, die weiter nicht erläutert und ins Verhältnis gesetzt werden – etwa in Relation zur Zahl der Getesteten, zum Verlauf anderer Infektions-, Erkrankungs- und Sterbekurven, zu Jahresvergleichsdaten oder bezogen auf das Alter, den sozialen Status und die Vorerkrankungen derjenigen, die statistisch erfasst wurden. Ebenso werden keine Zusammenhänge erörtert, die sich jenseits der scheinbaren Dramatik klinischer Fälle und sozialsanitärer Zwangsmaßnahmen erkennen lassen. Die virologische Krisenfixierung ist alles bestimmend.


Aber der Reihe nach: „Corona“ ist ein Wort aus dem Lateinischen. Es bedeutet Krone. Die Krone symbolisiert die besondere gesellschaftliche Stellung ihres Trägers, des Herrschers. Dieser gilt als jemand, der allen anderen Menschen, seinen Untertanen, überlegen ist. Er verfügt über Einfluss. Ihm allein steht die Macht zu, über Leben und Tod zu bestimmen.


Durch die (wohl eher zufällige, aber vielsagende) Bezeichnung des Virus mit dem Wort „Corona“ wird ein semantisches Bedeutungsfeld eröffnet. Dieses verweist sowohl sozialhistorisch als auch in der soziologischen Theoriebildung auf eine Gesellschaftsformation und eine Herrschaftsform, die dem Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie im Geschichtsverlauf voraus gegangen sind: der Feudalismus und der Absolutismus.


In den 1960er Jahren untersuchte der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Jürgen Habermas den sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit und ihren politischen Funktionswandel seit der Herausbildung des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Für den Zeitraum seit Mitte des 20. Jahrhunderts analysierte er eine gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenz, die er als „‘Refeudalisierung‘ … (bezeichnet) insofern, als mit der Verschränkung von öffentlichem und privatem Bereich nicht nur politische Instanzen gewisse Funktionen in der Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit, sondern auch umgekehrt gesellschaftliche Mächte politische Funktionen übernehmen“.


Laut Sighard Neckel, Gesellschaftswissenschaftler an der Universität Frankfurt/Main, nahm Habermas in seiner Analyse Bezug auf die Privatisierung gesellschaftlicher Bereiche, welche zunehmend unter den Druck von Kommerzialisierung und politischer Legitimitätsbeschaffung geraten. Die Öffentlichkeit sei zum Instrument ökonomischer Verwertungsinteressen und politischer Beeinflussungsmedien geworden.


Als Folge davon hebe sich die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Sphärentrennung zwischen staatlich-öffentlichen Angelegenheiten und privaten Interessen auf: Aufgaben der staatlichen und kommunalen Daseinsvorsorge werden an private Investoren ausgelagert („Outsourcing“), etwa im Rahmen der Privatisierung von Kliniken; privatwirtschaftliche Interessen beeinflussen auf vielfältige Weise das formal-demokratische Staatswesen sowie gesamtstaatliche und kommunale Einrichtungen; in Fragen der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung sind öffentliche Instanzen auf den Zugang zu den gesammelten Daten der privatwirtschaftlichen Tech-Konzerne angewiesen.


Unter Refeudalisierung, so Neckel, habe Habermas nicht etwa die schlichte Rückkehr zur bäuerlichen Leibeigenschaft und zur Fronarbeit des Lehnswesens verstanden. Der von ihm gewählte Terminus verweise vielmehr auf einen Prozess, der ein paradoxes Entwicklungsphänomen inmitten des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft betrifft.


Im Feudalismus nämlich bestimmte das Interesse des Feudalherrn die Angelegenheiten seiner Lehnsleute. Die Refeudalisierung, wie sie von Habermas verstanden wurde, bedeute nicht den Rückschritt in diese historische Vergangenheit. Sie beschreibe vielmehr die neu-„fortschrittliche“ Abkehr von der ehemals progressiven bürgerlich-wohlfahrtsstaatlichen Sozialordnung.


Deren besonderes Merkmal war die Trennung zwischen öffentlichen Angelegenheiten (Staat) und privaten Interessen (Wirtschaft/Markt), vermittelt durch die bürgerliche Öffentlichkeit aus Parteien und Parlamenten, dem Zeitungswesens und der Literatur, den Vereinen und den Interessenverbänden von Unternehmern und gewerkschaftlich organisierten Werktätigen. Heute hingegen beeinflussen und steuern die privaten Print- und elektronischen Medien sowie die Konzerne und Banken das öffentliche Geschehen, teils durch Lobbyarbeit, teils im Wege von Parteispenden, teils mittels ihrer Stiftungen sowie auf noch anderen, meist verborgenen Wegen.


Als Modus eines gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesses betrachtet, meint Refeudalisierung einen weitaus komplexeren und widersprüchlichen Prozess, als den einer bloßen Rückkehr zur Vergangenheit. Ähnlich wie Habermas beschrieb Colin Crouch die Entwicklung, dass die modernen Wirtschaftseliten den politischen Raum aus Parteien, Parlament und Medien sowie die Institutionen des Staates dem Muster gewinnorientierter Unternehmen angepasst haben. Lemmata hierzu sind Schlagworte wie „schlanker Staat“, „unternehmerische Stadt“, „Unternehmen Hamburg“, „Konzern Frankfurt“.


Refeudalisierung bezeichnet nun einerseits zwar eine Art von Modernisierung im Zeichen digitaler Technologien politischer Kontrolle und des Überwachungskapitalismus per Internet. Andererseits haftet dem damit beschriebenen Prozess aber auch immer noch etwas feudalzeitlich ‚Mittelalterliches‘ an.


Der italienische Philosoph Giorgio Agamben berichtet, dass der bedeutende französische Virologe Didier Raoult die Ernsthaftigkeit der viralen Epidemie und die Effektivität der Isolations- und Quarantänemaßnahmen „als mittelalterlichen Aberglauben bezeichnete“. Die Wissenschaft – hier in Gestalt der Virologie, der Epidemiologie und der pharmakologischen Forschung – sei zur Religion unserer Zeit geworden.

Die Analogie zur Religion ist durchaus wörtlich zu verstehen: Die Theologen des Mittelalters hätten erklärt, sie seien nicht imstande klar zu definieren, was Gott sei. Dennoch diktierten sie den Gläubigen im Namen Gottes Verhaltensregeln und schreckten nicht davor zurück, Ketzer zu verbrennen. Heute seien es Virologen, die zugeben, nicht genau zu wissen, was ein Virus sei. Dennoch würden sie im Namen des Virus beanspruchen entscheiden zu können, wie Menschen zu leben hätten. „Man sagt uns – wie es in der Vergangenheit schon oft geschah –, dass nichts mehr so sein werde, wie es einmal war, und dass sich unser Leben ändern müsse.“


Dem von Habermas als Refeudalisierung bezeichneten Prozess entspricht auf Seiten großer Teile der Bevölkerung die erzwungene Anpassung an Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich mit denen des Feudalismus vergleichen lassen. Hierbei ist etwa nicht nur an die fronförmigen Werkvertragsbedingungen zu erinnern, unter denen vorwiegend ausländische Arbeitskräfte im Paketzustelldienst, in der Fleischindustrie und saisonal in der Landwirtschaft ausgebeutet werden. Gleicherweise erinnert die Homeoffice-Tätigkeit an die wirtschaftliche Organisationsform dezentraler Produktion: an das frühkapitalistisch-neuzeitliche Verlagssystems in Heimarbeit.

Wie in den Siechenheimen des Mittelalters wurde den Angehörigen von alten, pflegebedürftigen und sterbenden Insassen der Alten- und Pflegeeinrichtungen der Kontakt verwehrt. Die euphemistisch als Inobhutnahme bezeichnete Fremdplatzierung von Kindern infizierter Eltern, fern ihrer Familie, gehört in diesen Zusammenhang. Mittelalterliche Reminiszenzen werden ebenso wach, sobald man objektive Maßstäbe anlegt an die Berichterstattung der Medien über Kundgebungen und Demonstrationen, bei denen die Teilnehmenden gegen die per Verordnung vollzogenen Grundrechte-Einschränkungen der Regierungen auf die Straße gehen und protestieren.


Die Demonstrierenden werden – wie im Mittelalter die Häretiker und bei den Hexenverfolgungen die Weisen Frauen – ins gesellschaftliche Abseits gestellt und pauschal als „gefährlich“ verleumdet: als „Aluhüte“, „Esoteriker“, „Covidioten“, „Coronaleugner“, „Verwörungstheoretiker“, „Reichsbürger“ oder „Neonazis“. Die herrschaftskonformen Virologen erweisen sich als moderne Heilige Inquisition, die Print-, TV- und Digital-Medien des Mainstreams als moderne Scheiterhaufen.


Wie im Mittelalter die Geistlichkeit, so beanspruchen und verkörpern superreiche Milliardäre wie Bill Gates und Warren Buffett sowie die Vertreter des wissenschaftlichen sowie des Medien- und Parteien-Establishments nach Art des geistlichen und weltlichen Feudaladels eine ideologische und mit Macht ausgestattete Führerschaft. Ihr ist unbedingter Gehorsam und Gefolgschaft zu leisten. Widerspruch und Widerstand sind nicht geduldet.


Das Politikmuster, welches in Deutschland am Beispiel der Corona-Maßnahmen zu erkennen ist, erinnert an den absolutistischen Obrigkeitsstaat des Wilhelminismus, aber auch an die Politik der Notverordnungen gegen Ende der Weimarer Republik. Wie seinerzeit – im Wilhelminismus, dann weiterlebend in der Weimarer Republik und nicht zuletzt im Nazi-Faschismus – gemahnt auch das heutige Verhalten des größten Teils der Bevölkerung an die massenhafte Untertanen- und Gefolgschaftsbereitschaft von damals.


Im Zuge der fortschreitenden Militarisierung der Ordnungskräfte entwickeln sich auch heute erneut polizeistaatliche Strukturen. Das Spitzelwesen nimmt die Gestalt elektronischer Überwachung an. Sämtliche dieser Zusammenhänge – die Merkmale der Refeudalisierung ebenso wie die Erscheinungsformen einer Rückkehr zum absolutistischen Obrigkeitsstaat – erschließen sich aus dem semantischen Bedeutungsfeld von lat. „Corona“, die Krone. Mehr noch: Sie haben durchaus eine Entsprechung in der Realität.


Wer sich dieser Zusammenhänge und Parallelen vergewissert, für den wird erkennbar, dass sich der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen in einem größeren gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext bewegt. Historisch erinnern die aktuellen Proteste einerseits an die Bauernkriege gegen den Feudaladel; an die Französische Revolution 1789 im Kampf des Bürgertums und der Pariser Massen gegen den Adel; an die 1848er Revolution in Deutschland; an den durch die revoltierenden Soldaten und Arbeiter vor einem Jahrhundert ausgelösten Sturz der deutschen Monarchie (schon zu Kaiserzeiten wurde das Robert-Koch-Institut gegründet); an den 17. Juni in der DDR und an deren Ende 1989.


Andererseits reicht aber auch die politische Tragweite der Hoffnungen, die im Sinne des marxistischen Philosophen Ernst Bloch mit dem politischen Widerstand verbunden sind, weit über das von den Protestierenden bisher verlangte Festhalten am Grundgesetz hinaus. Der Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse erfordert eine Neue Demokratie. Das heißt, die Soziale Bewegung des Widerstands gegen die herrschende Corona-Politik ist gefordert, ihre Verfassungsbefangenheit zu überwinden und sich von der ausschließlichen Fixierung auf die virologische Krise zu lösen.

Zum Autor:

Professor Rudolph Bauer, geb. 1939 in Amberg, Politikwissenschaftler, 1972-2002 Prof. für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen.
Schriftstellerisch und künstlerisch tätig; zuletzt "Zur Unzeit, gegeigt. Politische Lyrik und Bildmontagen" (2020); Bildmontagen auf Instagram #bauerrudolph

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