Über nichts schreibt es sich schwerer als über die Gegenwart, denn damit kennt sich jeder aus. Manch einer sogar besser als der Autor.
Dimitré Dinev
Leute, erinnert ihr noch an diese ungeheuer spannenden und bösen kleinen Storys, die wir als Erstes buchstabiert haben? Nein, ich meine nicht Hemingway, auch nicht Böll, sondern dieses Brüderpaar. Richtig Grimms Märchen. Ihr habt seit langem keine packenden Shortstorys gelesen? Ich auch nicht. Schreibt sie keiner mehr, diese kleinen bittersüßen Geschichten vom Feinsten? Keine Sorge, am Ende Europas lebt einer, der kann das noch. Er heißt Dejan Enev. Und er hat ein stolzes Thema; bei uns nennt man es »Nachwende«.
Wie manche von uns aus eigener Erfahrung wissen, gehen Umwälzungen immer einher mit ungeheuerlichen Eigentumsdelikten. Seit Sullas Proskriptionen im alten Rom ist man allerdings raffinierter geworden in der Wahl der Mittel. Die Wende in Bulgarien entließ die Masse in die Armut und belohnte das organisierte Verbrechen mit Reichtum. Denn anders als die DDR-Bürger sind die einfachen Bulgaren beim freien Fall aus dem realen Sozialismus anfangs nicht in einer etwas löchrigen sozialen Hängematte aufgefangen worden, sondern direkt mit dem Allerwertesten auf dem dornigen Boden der Tatsachen gelandet. Man ist total verwirrt und fragt sich, wie konnten Menschen, vollgepumpt mit der Lehren des Marxismus, diesen Aufprall aushalten? Dejan Enev erzählt davon.
Wie auch im angelsächsischen Sprachraum, wird die Kurzgeschichte in Bulgarien hoch geschätzt. Wenn sie Biss hat. Denn mit dem deutschen Betroffenheitskultus sind bei den Bulgaren keine Punkte zu sammeln. Es mag passieren, was will, keiner hat sich für nichts zu entschuldigen. Der Sammelband »Zirkus Bulgarien« präsentiert Shortstorys aus den drei Büchern »Menschenjäger«, »Kopf oder Zahl« und »Alle an den Bug des Schiffes«, erschienen zwischen den Jahren 1994 und 2005. Der Autor gibt Schilderungen aus Stadt und Land und immer wieder aus dem Irrenhaus, unglaublich dicht und anrührend. Gerade das Dritte kann man nur lesen, nicht wiedergeben.
Typisch für die slawische Weltsicht der letzten beiden Jahrhunderte bildet das vermeintlich intakte Dorf den Gegenpol zum Moloch Großstadt. So beschreibt es schon Gogol und nach ihm Gorki, später Valentin Rasputin. Enev reiht sich würdig ein. Eine Messie-Frau stapelt jahrelang den Abfall des Dorfes. Dann wirft ihre einzige Ziege ein Lamm und sie brennt den Müllberg ab. Wird sie morgen wieder sammeln?
Das Verbrechen kommt brutal und rührend und sinnlos daher, ähnlich wie in den frühen Shortstorys von Bret Easton Ellis. Der heimkehrende Söldner trinkt in der Truckerkneipe an der Landstraße seinen letzten Whisky, zieht scheinbar ohne Grund die Automatik, erschießt den hinkenden Hund und zwei mitleidige Imbissnutten. Aus Hass? Aus Trauer? Im Suff.
Auch die Hauptstadt brütet viel schauriges Schicksal aus. Ohne vordergründige Schuldzuweisungen, nüchtern und einfühlend erzählt Dejan Enev davon und nicht ohne slawische Innerlichkeit. Die »eiserne Großmutter« gründet eine Bande zur Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Solche dilettantischen Eingriffe in seine unrechte Gerichtsbarkeit kann kein Staat hinnehmen und die alte Dame wird weggesperrt.
»Obgleich hinter Gittern, hatte sie offenbar alle Fäden in der Hand behalten, mit denen sie ihre in der Illegalität untergetauchten Jungs lenkte. Ausdruck dessen ist die Tatsache, dass die Gattin des höheren Regierungsbeamten B. S. eines Morgens völlig nackt auf einer Bank in der Anlage um das Russische Denkmal erwachte, ohne dass sie sich an das Vorgefallene erinnern konnte, und mit einer Zahnbürste in ihrem Hintern.«
Davon dürfen wir nur träumen.
Dieser Bulgare will den Leser nicht wohlig bauchpinseln, mit Gänsehaut soll er auf dem Sofa zappeln! Boshe moi, wie hab ich das vermisst beim Lesen der weichgespülten Massenware (entschuldige, Wladimir Kaminer).
Leute, zieht euch Dejan Enev rein. In Bulgarien wird noch exzessiv geraucht, gefickt, gesoffen, wie hierzulande bloß unter den Prekariern. Das Leben kann kurz und prachtvoll sein. Oder lang und quälend. Häufig ist es Scheiße, Scheiße, Scheiße. Das Leben eben.