Alle Jahre wieder legt die Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer (Professor für Pädagogik in Bielefeld) eine Analyse der "Deutschen Zustände" vor. Seit 2001 widmet sich die Forschungsgruppe dem Zusammenhang zwischen der sozialen und der ökonomischen Situation in Deutschland. Und schon im Vorwort der neunten Folge, die von der deutschen Lage im Ergebnis der Finanz- und Wirtschaftskrisen handelt, kommt Heitmeyer zum Untertitel der deutschen Zustände: "Was bleibt, ist eine Mischung aus Angst, Wut und Zynismus".
Heitmeyer stellt einen "massiven Kontrollverlust der Politik zugunsten eines zunehmend autoritären Kapitalismus" fest, der zum einen seinen Niederschlag in wachsender Verarmung findet. Zum anderen in einem empirisch belegten Stimmungsbild, das sich gegen "faule Arbeitslose" oder "Ausländer, die den Sozialstaat belasten" richtet, um die wachsende soziale Kluft in Deutschland ideologisch zu legitimieren. Dass zu den dummen Stereotypen zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Abdrift auch ein Anwachsen der Islamophobie gehört, ist im Kapitel "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" mit wissenschaftlicher Genauigkeit insbesondere "in den höheren Einkommens- und Statusgruppen" nüchtern belegt.
"Das Paradoxon dieser Form moderner Islamfeindlichkeit", analysiert Carolin Emcke in den Zuständen, "besteht darin, dass sie ihre Intoleranz (gegenüber Muslimen) immer mit ihrer Toleranz begründet." Tatsächlich führt der Vorwurf, der Islam sei intolerant und entbehre der großartigen, westlichen Toleranz, zu nichts anderem als zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen: Die Muslime gibt es in den Medien nur noch im Plural, dass es auch in dieser religiösen Gruppe höchst unterschiedliche Menschen gibt, verschwindet hinter einem totalen Klischee, das zu nichts anderem gut ist, als die eine gesellschaftliche Gruppe auf die andere zu hetzten.
Heribert Prantl untersucht in seinem Zustands-Aufsatz den Zusammenhang von "Elite, Dekadenz und Demokratie". Vom spätrömischen, dekadenten Westerwelle-Zitat ausgehend, macht er begreiflich, dass in dieser Hartz-Vierer-Beschimpfung nichts anderes steckt, als der Versuch, soziale Ungerechtigkeit zu zementieren. Sprachmächtig weist der Autor der "Süddeutschen Zeitung" darauf hin, dass "Die Natur ein Gerechtigkeitsrisiko" ist, und dass wir mit unterschiedlichen Anlagen und in unterschiedlichen sozialen Gegebenheiten zur Welt kommen. Deshalb sei es Aufgabe des Staates, diese Ungleichheit zumindest zu mildern. Leider bleibt der kluge Journalist hinter sich selbst zurück, wenn er glaubt, "Das Übel, dass viele Leute ein schlechtes Leben führen, resultiert ja nicht daraus, dass andere Leute ein besseres Leben führen". An anderer Stelle in den Zuständen weiß man sehr wohl, dass, seit der rotgrünen Regierung, der Spitzensteuersatz drastisch gesenkt wurde und deshalb die oberen zehn Prozent in der deutschen Gesellschaft ihren Anteil am privaten Nettovermögen auf 61 Prozent haben steigern können. Während die unteren siebzig Prozent gerade noch auf einen Anteil von 8,8 Prozent kommen.
Dass die schweren sozialen Verwerfungen in der Bundesrepublik einen "zynischen Diskurs über Ungleichheit" hervorgebracht haben, der den Verlierern im Sozialkampf auch noch Verachtung entgegenbringt, beschreibt Albrecht von Lucke in seinem Kapitel in den Zuständen. Er sieht in dieser Verachtungskampagne die Herren Sarrazin und Sloterdijk nur sprachlich getrennt: Während der erste "eher den Jargon der NPD" kopiere, sähe der zweite seine Zielgruppe im Bürgertum, das er zum "Klassenkampf von oben" aufriefe. Der Autor warnt davor, dass "sich heute ein tiefsitzendes Ressentiment gegen ethnische Minderheiten und sozial Schwache Bahn" bricht. Eine Warnung, die er mit einer Fülle ziemlich widerlicher und undemokratischer Äußerung von Frank Schirrmacher (FAZ) über Henryk Broder (Alibi-Jude der Mainstream-Medien) bis zu Franz Sommerfeld (Ex-Kommunist und Vorstand bei DuMont Schauberg) belegt.
Heitmeyers "Deutsche Zustände" sind ein Lexikon der sozialen Wirklichkeit in der Bundesrepublik. Zugleich versammeln sie jene deutsche Intellektuelle, die noch an ihre Verantwortung für das Gemeinwesen glauben, in dem sie leben. Dass deren Zahl in den letzten Jahren geringer geworden ist, hängt mit den politischen und ökonomischen Umständen zusammen, die der Republik eine drastische Verschiebung in den Vermögens- und Machtverhältnissen beschert hat. Es wird auch in 2011 einen letzten Band der Zustände geben. Ob deren Bilanz der letzten zehn Jahre dann dazu führt, dass wir Zustände kriegen werden, hängt wesentlich davon ab, ob wir die Umstände ändern können.