Leben wie ein Baum,
einzeln und frei,
und brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht
Nazim Hikmet

Zur Rechten sieht man wie zur Linken,
einen halben Türken heruntersinken.
Ludwig Uhland

Uhlandstraßen finden sich in Deutschland überall. Der Tübinger Dichter, der 1833 auch einen Aufruf für die "Preßfreiheit" verfasst hatte, ist mit seinen romantischen Gedichten lesebuchkompatibel. Der Türke Nazim Hikmet war Kommunist. In der Türkei ist keine Straße nach ihm benannt. In Ludwig Uhlands Gedicht geht es um den "wackeren Schwaben", der den Kaiser Rotbart bei seinem erfolglosen Kreuzzug begleitet hatte. Nazim Hikmet meinte seine Brüderlichkeit deutlich globaler. Wie viele Türken heute in Schwaben wohnen, ist unbekannt. Rund sechs Millionen Türken leben in der Europäischen Union. Die Türkei hat über 70 Millionen Einwohner. Der türkische Staat will - mal mehr, mal weniger - Mitglied der EU werden. Mit "Nach Atatürk" legt Perry Anderson ein ungewöhnlich spannendes Buch zur jüngeren Geschichte der Türkei und ihrem aktuellen Zustand vor.

Es ist ein klares Jein mit dem der Historiker Anderson die Frage nach einem Beitritt der Türkei in die EU beantwortet: "Denn der erste und grundsätzlichste Unterschied zwischen dem türkischen Kandidaten und all den osteuropäischen Beitrittsländern liegt darin, dass die EU es hier mit dem Abkömmling eines imperialen Staates zu tun hat, der lange Zeit eine weit größere Macht darstellte als irgendein Königreich des Westens." Selbst wenn fraglich ist, ob nach mehr als 80 Jahren Republik der imperiale Anspruch regiert: Immer noch laste der nicht eingestandene Genozid an den Armeniern wie Mehltau auf der öffentlichen Debatte der Türkei und erst eine Anerkennung dieses Verbrechens gäbe der Türkei jene Offenheit und Souveränität, die ein EU-Mitglied benötige, schreibt Anderson.

Auch die mit Kemal Atatürk verbundene Modernisierung der Türkei sieht Anderson eher skeptisch: Bei allem Verdienst sei der Kemalismus eher eine Ersatzreligion, befindet der Autor und stellt fest, dass es sich bei den kemalistischen Neuerungen um eine kulturelle Revolution ohne eine soziale gehandelt habe. Dieses Fehlen einer sozialen Basis, das Aufpfropfen einer Modernität von Oben, führe letztlich zu nationalistischen Reflexen und eben nicht zu einem modernen, selbstbewussten Land. Obwohl man als sicher annehmen darf, dass Atatürk Atheist gewesen ist und einer seiner Hauptverdienste die Trennung von Staat und Kirche war, konnte er auf den Islam als eine Art Kitt zur Formung eines Vielvölkerstaates nicht verzichten. Bis heute ist der Islam Staatsreligion, bis heute regelt das Präsidium für Religionsangelegenheiten die Finanzierung und Ausbildung von Geistlichen und immer noch werden andere Religionen in der Türkei diskriminiert.

Erst recht dramatisch sieht Anderson die bisher nicht gelöste Kurdenfrage: Schon unter Atatürk sei es - obwohl der die Türken und Kurden als Brüder bezeichnete - zur Unterdrückung der Kurden gekommen und er bezieht sich auf einen kurdischen Aufstand im Jahr 1925, der blutig von der türkischen Armee niedergeschlagen wurde. Seit dieser Zeit, so Anderson, werde Kultur und Sprache der Kurden in der Türkei unterdrückt. So wie der Autor in dieser Sache bis in die jüngste Zeit recht hat, so wenig genau geht er dem damaligen Ausgangspunkt nach: Auslöser des Aufstandes war die Auflösung des Kalifats, jener religiösen Zentralinstanz der Osmanen, die Atatürk im Rahmen seiner Modernisierung keinesfalls bestehen lassen konnte. Und angeheizt wurde der Konflikt von den Engländern - die das Gebiet um Mosul für sich sichern wollten. Ein Stück Land, das von den Türken als Nachfolger der Osmanen beansprucht wurde und den Briten seiner Ölquellen wegen besetzt war.

Die Briten tauchen auch in der Zypern-Frage auf, jenem ungelösten Konflikt der EU, an dem der Beitritt der Türkei bisher wesentlich scheiterte. Seit 1925 britische Kolonie, war die Insel ein ständiger Zankapfel zwischen den Griechen, den Türken und den Briten, die bis heute auf Zypern über einen ihrer größten Militärstützpunkte verfügen. Anderson widmet dem Zypern-Konflikt ein eigenes Kapitel und kommt zu dem Schluss, dass es keinen Sinn macht, den Türken die Schuld an den gescheiterten politischen Prozessen zu geben. Er sieht Großbritannien und die USA in der Verantwortung für die andauernde Teilung der Insel und belegt diese These sorgfältig mit historischen Fakten.

Obwohl Anderson nicht nur eine umfassende Analyse der Türkei "Nach Atatürk" vorlegt, sondern sie auch sorgfältig in der Geschichte verankert, lässt er aktuelle Fragen, die scheinbar neben dieser Analyse existieren, sie in Wirklichkeit aber mitbestimmen, außer Acht: Warum nur sind es nachdrücklich Sarkozy und Merkel, die der Türkei die Mitgliedschaft in der EU hartnäckig verweigern? Welche Rolle spielen die islamischen Minderheiten Europas bei einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei? Und wie wertet der kluge Autor, dass seit kurzem kurdisches Fernsehen in der Türkei ausgestrahlt wird? Vielleicht gibt eine kleine Boshaftigkeit Andersons Auskunft über seine Haltung: Während er süffisant erwähnt, dass die Türkei unter Atatürk das italienische Strafrecht (aus der Mussolini-Zeit) importiert hat, mag er seine Leser nicht daran erinnern, dass zeitgleich das Schweizer Zivilrecht eingeführt wurde, das die Einehe und damit eine Gleichstellung von Mann und Frau vorsah.

Längst liegen die Türken nicht mehr vor Wien, sie wohnen dort: Rund 135.000 Türken leben in Österreich. Der Wunsch der Türkei auf eine EU-Mitlgiedschaft lässt nach, so der türkische EU-Minister Egemen Bagis, der die Türken in den nächsten Jahren nicht in der Europäischen Union sieht. Der französische Präsident weiß es genau: "Die Türkei hat keinen Platz in Europa". Andersons vorliegende Arbeit ist eine große Hilfe zur politischen Einordnung der Türkei. Eine Brücke in die Türkei, jenen widersprüchlichen Staat, in dem die islamisch geprägte Regierungspartei in den letzten Jahren mehr Schritte zur Demokratie unternommen hat als die kemalistischen Gruppierungen, hat er nicht gebaut.