Es ist ein gelahrtes Buch, das der Wilhelm Fink-Verlag zu Russisch-Deutschen Verhältnissen nach 1945 auf den Tisch legt. Üppig mit Fakten, Zahlen und Zusammenhängen angereichert, großzügig, fast verschwenderisch in seiner Differenziertheit und sehr zeitgemäß. Der dritte Band des von Lew Kopelew angestoßenen Projektes zum Verhältnis der Russen und der Deutschen liegt vor. Ein Gesamtprojekt, in das im Verlaufe von sieben Jahren 130 Autoren aus Russland und Deutschland verwickelt waren, erlaubt auch der neuen, vorliegenden Arbeit "Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge", herausgegeben von Karl Eimermacher und Astrid Volpert, keinen kleinen Maßstab: Rund 40 Autoren füllen die mehr als 1.200 Seiten mit ihren durchweg klugen, vielschichtigen und sorgfältig edierten Beiträgen. Die Deutschen und Russen könnten heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, die Jahrzehnte des Feindbildes und der Stereotypen hinter sich haben. Vor ihnen läge, angesichts der geopolitischen Verhältnisse, die eine Zusammenarbeit zwingend vorschreiben, eine Zukunft, die sich dann vom Klischee zur Kenntnis entwickeln können würde. Dazu liefert die vorliegende Arbeit einen soliden wissenschaftlichen Beitrag.

Mit einem einleitenden Aufsatz von Anne Hartmann, der eine Kontinuität religiöser Schemata, einen "Glauben an Rußland" als Herrschaftsklammer von den Zaren bis heute zu beweisen sucht, und die während der Stalin-Herrschaft leicht zu finden ist, wird eine Grundrichtung der Arbeit angegeben. Es geht um Kultur, um Ideologie, schon seltener um Politik. Ökonomie und Soziales bleiben fast ausgeblendet. Hartmann, die Rußland "zu einer Verständigung über seine Vergangenheit" rät, um daraus ein Identität stiftendes gesellschaftliches Modell für die Zukunft zu finden, liefert mit ihrem zweiten Aufsatz im Buch, über die »sowjetische Leitkultur« in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ), einen interessanten Beitrag zur Analyse der unmittelbaren Nachkriegseinflüsse auf die sich herausbildende DDR. Ihre Erinnerung an die sowjetischen Kulturoffiziere, die im Nachkriegsberlin, der SBZ und der DDR, versuchten "die unter den Trümmern der Nazidiktatur verschüttete Kultur freizulegen", reduziert diese Mühen weitgehend auf eine "verklärte Erinnerung" und die Instrumentalisierung von Kultur für die Politik der sowjetischen Besatzer. So wie sie recht hat, blendet sie auch aus. Die Frage, woher der immense Bildungshorizont der Kulturoffiziere kommt, beantwortet sie mit der These, die Offiziere seien alles Kinder der "alten" der vorrevolutionären russischen Eliten gewesen, um der Sowjetunion eigene Bildungsleistungen abzusprechen. Dabei übersieht sie sowohl, dass es wesentlich die Kinder der alten Eliten waren, die an der Spitze der Revolution standen, als auch die außerordentliche, kreative, hoch gebildete Debatte in der jungen Sowjetunion, die an anderen Stellen nachzulesen ist.

Wenn in einem ersten Kapitel zum Umgang mit der gemeinsamen Kriegsvergangenheit an die "Reparation durch Arbeit" erinnert wird, stehen deutsche Luftfahrt- und Raketenspezialisten im Zentrum der Aufmerksamkeit. So wie die amerikanischen Besatzer sich aus der deutschen Technik- und Wissenschaftselite bedienten, so beschafften sich auch die Russen bestes Personal aus der deutschen Kriegsindustrie. Dieser Beitrag von Pavel Polian korrespondiert mit der Arbeit von Sergej Kuwschinow und Dimitrij Sobolew, die nicht nur vom Technikerklau wissen, sondern auch von Freiwilligen, die, entweder weil sie 1945 in Deutschland keine Arbeit fanden oder weil sie überzeugte Kommunisten waren, der Sowjetischen Militäradministration ihre Arbeit anboten. Die schweren Schicksale vieler Deutscher, die "Reparation durch Arbeit" leisteten, von mangelhafter Ernährung bis zur direkten Repression, ist Teil der gemeinsamen Feindbild-Geschichte. Einer Geschichte die - im Osten verschwiegen, im Westen als Propagandainstrument genutzt - ihre Wurzeln im deutschen Überfall auf die Sowjetunion hat und sich auch damit einem simplen Vergleich mit den "Ostarbeitern" in Hitlerdeutschland entzieht. Eine Gemeinsamkeit der Naziherrschaft und des Stalinismus, die sich im Buch gerne im häufigen Gebrauch des Wortes "Totalitarismus" beweist, scheint sich im stalinistischen Antisemitismus zu zeigen. Von der Verfolgung jüdischer Ärzte über das Verschweigen des Holocaust bis zur Unterdrückung und Verfolgung jüdischer Künstler in der Sowjetunion wird in einigen Beiträgen eine erschreckende Ähnlichkeit beschrieben. Auch wenn der millionenfache Mord an den europäischen Juden, industriell exekutiert durch die deutsche Vernichtungsmaschine, ein singuläres Verbrechen ist, bleibt der sowjetische Antisemitismus, in einem Land verordnet, dass mit Lenin den "offiziellen Antisemitismus der Zaren" (Gennadij Kostryschenko) beendet hatte, besonders ekelhaft.

Im Abschnitt zu "Utopie und Utopieverlust" glimmt eine Sowjetunion auf, in der sich, trotz Stalin und Breshnew, jener Humanismus spiegelte, der dem richtig verstandenen Marxismus zu eigen ist. Mit Holger Böning erinnern wir eine fast versunkene Welt: Das politische Lied in Westdeutschland, mit seinen Protagonisten Degenhardt, Süverkrüp und Wader, deren Wurzeln Böning im Arbeiterlied der zwanziger und dreissiger Jahre verortet, sehen wir den Sowjetblock als Alternative zum US-Block, begreifen wir, dass der Vietnamkrieg und der "hysterische Antikommunismus" der sechziger Jahre, die längst jeder Hoffnung bare Sowjetunion zum positiven Gegenbild werden ließ. In Frank Wagners Arbeit über das Rußlandbild der Anna Seghers wird dieser prosowjetische Reflex, der sich ebenso aus der Bedrohung durch den Faschismus wie aus dem Wunsch, dass "es bald keine Armen und Reichen, keine Unterdrücker und Unterdrückten gibt" entwickelt hatte, als Muster von Denkfiguren in einer zweigeteilten Welt sichtbar. Grundiert wird dieser Abschnitt mit einem liebevollen Portrait, das Astrid Volpert dem Dessauer Bauhausarchitekten Philipp Tolziner widmet. Tolziner, der von 1931 bis 1996 in der Sowjetunion lebte, kam mit der Idee des "Gemeinschaftshauses" in die Sowjetunion, eines Hauses, in dem die Kleinfamilie aufgelöst und das Wohnen an das Arbeiten gebunden werden sollte. Trotz Verurteilung zu zehnjähriger Lagerhaft machte der Kommunist Tolziner keine Anstalten nach Deutschland zurück zu kehren. In einer Stadt des Permer Gebietes wird der Architekt der Moderne zum Bewahrer des Alten: Er rettet und restauriert in Jahrzehnte währender Arbeit die historische Altstadt von Solikamks. Ein kleines Denkmal setzt Volpert dem Architekten, wenn sie eine ehemalige Schülerin Tolziners zitiert: "Drei Jahre hätten wir (mit Tolziner) abzuarbeiten gehabt - für mich dehnten sie sich auf achteinhalb aus, die bis heute in die Tiefe leuchten."

In einer Art Schlusswort handelt Alexander Borosnjak über die "Notwendigkeit, das Erbe ... totalitärer Herrschaftssysteme zu reflektieren und zu bewältigen" und sieht in diesem Thema eine wichtige Verbindung zwischen den Deutschen und den Russen. Einen bedeutenden Platz im Versuch die stalinistische Vergangenheit zu reflektieren, misst er der Perestroika und ihren Enthüllungen über die Verbrechen der Stalinzeit bei. Wer sich 1987 in der Sowjetunion befand, der erinnert sich an die nicht endend wollenden Debatten um die Lager, die Verschwundenen, die Millionen Tote aber auch an die Hoffnung, dass aus diesen Debatten eine neue Qualität des Zusammenlebens entspringen könnte. Borosnjak bemerkte den "Knick der Perestroika" bereits in 1988, als eine öffentliche Verteidigung des Stalinsmus bereits wieder möglich war und erkennt im heutigen Russland einen drohenden "Thermidor" des Geschichtsbewusstseins. Dass es der von Jelzin, dem ehemaligen KP-Chef von Moskau, befohlene Panzereinsatz gegen das sowjetische Parlament gewesen sein könnte, der die Perestroika beendete und die Restauration großrussischer Ideen einleitete, kommt ihm nicht in den Sinn. Vielleicht auch deshalb erzählt er den Lesern nur von einem Solschenizyn, der als großer Moralist zu Recht fragt: "Warum durfte Deutschland seine Übeltäter bestrafen, aber Rußland nicht?". Von jenem Solschenizyn, der als orthodoxer Christ untersucht, wie viele Juden in der Führung der Bolschewiki waren, schweigt der Autor.

Es ist die Moral, die dem Band "Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge" einen roten Faden gibt. Die Ausblendung von Ökonomie und Sozialverhältnis ist sicher gewollt und diese Themen einzufordern wäre, angesichts von mehr als tausend vorgelegten Seiten, eher ungerecht. Und doch wären die wirtschaftlichen Beziehungen der Russen (und der anderen Völker der Sowjetunion) und der Deutschen einer gründlichen Betrachtung wert. Wie spiegelte sich das Röhren-gegen-Gas-Geschäft der siebziger Jahre zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik in der westdeutschen Öffentlichkeit? Was bewirkte der fast zeitgleiche Aufbau des petrolchemischen Kombinates in Schwedt, basierend auf sowjetischem Erdöl, für die DDR-Wirtschaft und deren Arbeitswelt? War die Existenz von Maler-Ateliers im Kombinat, auf dem Werksgelände eine von den Russen angeregte Verschwendung oder ein Fingerzeig in eine neue Zukunft der Arbeit? War der "Sputnik" nichts anderes als die sowjetische Variante des Sterns von Bethlehem oder, insbesondere außerhalb der Sowjetunion, ein Symbol für eine Zukunft mit viel Arbeit und wenig Kapital?

Russland ist den Deutschen, den Europäern in den letzten Jahren näher gerückt. Es wird, gegenüber der letzten verbliebenen Supermacht, wenig politischen Spielraum geben, wenn man nicht mit den jeweiligen Regierungen der Russen kooperiert. Weit über die nicht zu unterschätzenden Rohstofflieferungen hinaus ist der Nachfolgestaat der Sowjetunion ein bedeutender Faktor internationaler Politik. Auch deshalb ist "Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge" so wertvoll. In einer Zeit, in der in Deutschland das Rußlandbild ebenso vom alten, antikommunistischen Reflex wie vom neuen, protzigen Reichtum einiger weniger verhangen ist, regt der Band an, über die Beziehungen zwischen Russen und Deutschen gründlich nachzudenken und arbeitet historische Linien heraus, die in die Zukunft weisen können. Wenn man lesen kann und will.

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