Die Geschichte könnte auch von einem Franzosen handeln, der 1943 im besetzten Paris Juden versteckt, hat Regisseur Philippe Lioret im Interview zu seinem Film „Welcome“ gesagt. Sie spielt aber im Frankreich unserer Tage, und zwar in der Küstenstadt Calais, und die „Juden“ darin sind meist jugendliche „sans-papiers“, Flüchtlinge ohne Papiere wie der 17-jährige Kurde Bilal aus dem irakischen Mossul. Bilal hat tausende Kilometer zu Fuß hinter sich gebracht, sein einziger „Reiseführer“ dabei war ein Foto seiner Freundin Mina, die es mit ihrer Familie nach London geschafft hat und auf ihn wartet. Doch in Calais - die britische Küste ist schon in Sichtweite - ist für Bilal Endstation. Die französische Polizei überwacht Häfen, Fähren und Tunnel mit Suchhunden und höchster technischer Perfektion. Bilals einzige „Chance“: er will England schwimmend erreichen. Hier kommt Simon (Vincent Lindon) ins Spiel, ein Schwimmlehrer, den seine Frau Marion gerade verlassen hat, weil er ihre Hilfsorganisation für die „Illegalen“ nur halbherzig unterstützt hat. Simon durchschaut Bilals Plan rasch und warnt ihn vor dem gefährlichen Unterfangen, hilft ihm aber doch, wohl auch, weil er für sich auch die Chance wittert, Marion zurückzugewinnen…
Das hätte alle Zutaten für ein kassensicheres Rührstück nach Hollywood-Art, mit einem selbstredend weißen Helden, der im Alleingang die Not der Armen aus der „dritten“ Welt lindert. Aber Liorets Film schielt nicht auf den Kassenerfolg. Sein Simon ist eingereiht in eine breitere Bewegung gegen Frankreichs Ausländerpolitik und darf auch aus nicht nur edlen Motiven handeln, und auch für Bilals hartnäckigen Wagemut bemüht Lioret keine hohlen Phrasen von Menschenwürde. Er weiß zuviel über die Realität, um mit einem süßlichen Happyend seinen Film zum Propagandisten der amtlichen Migrationspolitik zu machen. Sein Drehbuch ist auf gut recherchierte Fakten gebaut, die auch seine erkennbare Sympathie mit dem Schicksal Bilals nicht ins Positive verbiegen will: Dazu gehören eine jährliche Sollquote an Abschiebungen, von Präsident Sarkozy genau vorgegeben, und ein Gesetz, das jedem, der „Illegalen“ Schutz und Hilfe gewährt, eine Gefängnisstrafe von bis zu 5 Jahren androht. Menschliche Solidarität als Straftat – das ist keine Drehbucherfindung, sondern heutige Realität im einstigen Land von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“!
Dass angesichts solcher Widersprüche auch Liorets Argumentation gelegentlich ein wenig holzschnittartig gerät, ist verzeihlich. Platte Agitation wird das aber nie, auch nicht das rührselige Melodram, für das Fördergelder meist leichter zu haben sind. Sein „Trick“: um oberflächliches Mitleid gar nicht erst aufkommen zu lassen, konzentriert er sich vor allem auf den Alltag und die Psyche Simons, auf sein Schwanken zwischen Feigheit und mutiger Tat. Darin kann der Zuschauer, sofern er dazu bereit ist, auch seine eigenen Bedenken und Zögerlichkeiten im Umgang mit gesellschaftlich Ausgegrenzten wieder finden, ohne direkt zu einer Entscheidung herausgefordert zu sein. So könnte „Welcome“ Problembewusstsein und Einsichten schaffen. In Frankreich hatte er schon über eine Million Besucher.
Der Film kommt am 4. Februar in die deutschen Kinos.