Wer die Google-Maschine nach den Begriffen Populismus und Lafontaine suchen lässt, erhält rund 30.000 Treffer. Denn jede Zeitung, jeder Fernsehkommentator im Lande weiß: Wenn Lafontaine und die neben und hinter ihm stehenden Politiker Hartz IV als schändlich bezeichnen und den Aufenthalt der Bundeswehr in Afghanistan als grundgesetzwidrig, dann reden sie »populistisch« daher, dem Volk, das ihnen, was auch immer es sonst wählen mag, in diesen beiden Fragen durchaus zustimmt, nach dem Maul. Und weiter wissen die Experten in Politik und Medien, denn dort ist jeder Experte, dass die soziale Erniedrigung weiter Teile der Bevölkerung und die Besetzung Afghanistans durch fremde Truppen notwendig sind. Wer gegen jene Verschwörung der »Notwendigkeit« anredet, der will »die Gunst der Massen gewinnen« (Duden). Warum das in einer Demokratie per se schädlich sein soll, konnten die Experten bisher nicht klären, dass es irgendwie schädlich sein muss, wird von ihnen vorausgesetzt und täglich verbreitet.

Das vorliegende Buch »Populismus in Geschichte und Gegenwart« setzt sich wissenschaftlich, also streitbar, mit dem Populismus-Begriff auseinander und bezieht sich nur einmal auf Lafontaine, als einer der Autoren des Bandes, Jürgen Link, auf die rituelle Abweisung Lafontainscher Positionen durch die Mitte-Parteien hinweist: » . . . insbesondere soll populistisch heißen: undurchführbar, nicht praktikabel.« Am Schluss des Buches wird diese Beobachtung von Wolf-Dieter Narr wieder aufgenommen, der mit bitterem Vergnügen daran erinnert, dass Henri Quatres, des französischen Königs Wunsch, alle Franzosen mögen am Sonntag ein Huhn im Topf haben, sicher auch unter den Populismus-Vorwurf fiele. Narrs Aufsatz ist das Schmuckstück des vorliegenden Sammelbandes. Da schreibt einer, der annimmt nicht mehr viel Zeit zu haben, ungeduldig und klar, manchmal so harsch, dass man einen knarrenden Ton zu hören glaubt und nimmt sich doch Zeit für ein reiches, wunderschönes Deutsch: »Sie (die jeweils Herrschenden) rühren staatlich gesetztes Recht immer zugleich mit einer Gerechtigkeitssoße an. Der Duft betört die bürgerlich kritischen Sinne», stellt der Politologe fest und auch, dass die Mehrheit der Bürger von einer Beteiligung am ökonomischen Geschehen von vornherein ausgeschlossen ist und damit von der wirklichen Teilhabe an der eigentlichen Macht.

Über Demokratie und Ökonomie, über Machtausübung und soziale Bedingungen handelt auch der Mitherausgeber des Buches, Frank Unger, in seinen beiden Aufsätzen, die sich mit historischem und aktuellem Populismus in den USA beschäftigen. Unger, der bis zu seinem frühen Tod Autor der RATIONALGALERIE war, setzt seine tiefen Kenntnisse über die USA ein, um mit der Analyse der westlichen Führungsmacht den Mainstream von Freiheit und Demokratie als schlichte Gewerbefreiheit zu entlarven: »Ein Verständnis von Freiheit, das seinen Auftrag in der Befreiung von durch andere Menschen bedingte Zwänge (ökonomische Ausbeutung, etc.) sieht, wird heute überwiegend als undemokratischer Versuch einer Einschränkung der Freiheit denunziert.» Und so folgt Unger der Geschichte der USA von der Sklaverei, die auch in der als besonders demokratisch bejubelten Gründungsphase der USA als »juristisch anerkannte Form des Privateigentums« galt, bis zu den frühen amerikanischen Populisten, der People´s Party, die in ihrem 1892 zur Wahl gestellten Programm »das existierende Banken- und Kreditsystem als aristokratisch und monarchistisch, damit als zutiefst unamerikanisch charakterisierte.« Diese Sorte des Populismus, der populäre Wahrheiten aussprach und in den USA eine dritte Kraft neben den Parteien der Demokraten und Republikaner (die sich zeitweilig wie eineiige Zwillinge ähneln) etablierte, musste natürlich dringend als unseriös qualifiziert werden. Diese dritte Kraft störte die Eliten an der Machausübung und konnte bis heute in den USA nicht wiederbelebt werden.

Neben dem soziale und ökonomische Rechte einfordernden Populismus, gab und gibt es in den USA einen rechten Populismus, der mit dem religiösen Fundamentalismus auf das Engste verwandt ist. Frank Unger sichtet die Quellen des religiösen Fundamentalismus und arbeitet die Unterschiede zwischen dem europäischen Skeptizismus und der Religiosität der Amerikaner heraus: »Bei einer internationalen Gallup-Untersuchung . . . bei der in 14 Ländern bzw. Großregionen . . . nach der Wichtigkeit des religiösen Glaubens im täglichen Leben gefragt wurde, zeigte sich, dass man für die USA ungefähr das Entwicklungsniveau von Ländern wie Chile, Mexiko, Portugal und dem Libanon annehmen müsste, wollte man von der statistisch ermittelbaren Gläubigkeit auf den Stand der materiell-technischen Entwicklung schließen.« So kommt Unger folgerichtig zur »Moral Majority« der christlichen Rechten und der »Christian Coalition«, jener christlich angestrichenen Wahlmaschine zur Durchsetzung des Präsidenten George W. Bush. Allerdings nimmt Unger an, dass «unter den frommen Christen« der Irak-Krieg als unmoralisch begriffen wird und sie deshalb nicht mehr entscheidend in die nächste Präsidentschaftswahl eingreifen werden. Und wer die dauerhaften und schmalzigen Gottesbeschwörungen des Kandidaten Obama kennt, der kann sich vorstellen, in welches Dilemma der christliche Wähler in den USA geraten kann.

Der vorliegende Band ist reich an Kenntnissen und Erkenntnissen über den Populismus unterschiedlichster Prägung. Vom antisemitischen, polnisch-katholischen Sender Maryja, dessen Mechanismen Bettina-Dorothee Mecke untersucht (»Es geht um die Reproduktion einer simplizistischen Weltsicht, die notwendig auf die Unmündigkeit ihrer Träger baut«), über dänischen Populismus (Johannes Andersen: «Das erste Erkennungsmal eines populistischen Wählers sind geringe Erkenntnisse und wenig Interesse für aktuelle Politik.« Dieser Wählertyp ist unter den Wählern der rechten Dänischen Volkspartei besonders heftig verbreitet), bis zur Einschätzung des Zusammenhangs zwischen den fremdenfeindlichen Schlagzeilen der österreichischen »Kronenzeitung« und dem Wahlerfolg des Rechtspopulisten Haider von Rudi Renger und Franz Rest. Wer über die »Geschichte und Gegenwart des Populismus» informiert sein will, wird sich mit diesem Buch auseinandersetzen müssen. Ein erstaunlich frisches Zitat des Carl von Ossietzky aus dem Jahr 1924 findet sich im Aufsatz von Susanne Böhme-Kuby zum italienischen Populismus und zum Verschwinden der italienischen Linken: »Es gibt keine Republik, weil es keine Linke gibt. Weil das große Moorgelände der Mitte alles aufsaugt. Weil man sich lieber `ausbalanciert´ als kämpft«, befindet Ossietzky in Sorge um die Weimarer Republik. Gemeint war die in dieser Zeit als links geltende SPD.

Ein Fundstück aus diesen Tagen erinnert an dieses `Balancieren´ aus den Zwanziger Jahren. Gregor Gysi, ein bedeutender Repräsentant der heutigen deutschen Linken, gibt in einem Interview mit dem Berliner »Tagesspiegel» seine Beobachtung des amerikanischen Präsidentschafts-Kandidaten Obama preis. Er hält dessen mögliche Wahl zum Präsidenten der USA für ein »Jahrtausendereignis» und begründet das wie folgt: »Übrigens sieht man gleich, dass Obama ein ganz anderer Typ als George W. Bush ist. Er lächelt sympathisch, nicht hinterhältig.» Diese Verwechselung des Privaten mit dem Öffentlichen, diese klägliche Reaktion eines eigentlich klugen Menschen auf die clevere Marketing-Maschine des mechanisch lächelnden Obama, lässt sich gut mit Wolf-Dieter Narr kommentieren: »Verhaltet euch privat, nur dann handelt ihr rational, lautet die anhaltende Devise bürgerlicher Demokratie« zitiert der Autor. Und so soll der Bürger die Politiker als sympathische Menschen begreifen lernen, die Hunde lieben, ihre Kinder und auch ihn, den Wähler. Manchem scheint das auszureichen, um die auch mit Obama angetretenen imperialen Interessen der USA zu übersehen.