Alter Fritz, steig Du hernieder
Und regier´die Preußen wieder.
Laß in diesen schlechten Zeiten
Lieber Friedrich Wilhelm reiten.
Anonymus, März 1848, Zettel am Denkmal Friedrich II - Unter den Linden
Den Kartoffelkönig hat er vergessen, der Herfried Münkler, in seinem reichen Buch über die "Deutschen und ihre Mythen". Ein Buch das Heiterkeit und Wissenschaft vereint, das nicht nur die Barbarossa-, die Nibelungen- und die Preußen-Legenden ausbreitet sondern sie zugleich auf ihre gesellschaftlichen Verwendungszwecke abklopft: Da sitzt er nun, der alte Barbarossa seit 1896 im und am Kyffhäuser und war Zielpunkt der Aufmärsche "nationaler" Verbände, überlebte den reaktionären Reservisten-Kyffhäuser-Bund und den "Stahlhelm", bis dann beide in der SA aufgegangen waren. Dass ein Rabenflug weiter der deutsche Bauernkrieg ein von Werner Tübke inszeniertes Gedenken besitzt, gehört zur Ironie der in Unten und Oben gespaltenen deutschen Geschichte. Münkler sieht sie schon, freut sich auch an ihr, kann aber deren Tiefe nicht immer erfassen.
Als nach dem letzten großen Krieg der Sinn der Deutschen friedlicher gestimmt war, tauchte plötzlich der Kartoffelkönig in ihren Mythen auf: Jener Alte Fritz, der preußische König, dessen blutige Gewinnspiele um Schlesien gern zum Anheizen von Kriegsbegeisterung und Durchhalten genutzt wurden, war urplötzlich der, der den Deutschen die Kartoffel geschenkt hatte: Verlorene Kriege machen hungrig, da sind radikale Mythenwechsel dringend angesagt. Münkler erinnert in seinem umfänglichen und detaillierten Kapitel über den "Preußenmythos" nicht an die Kartoffelseite Friedrich des Großen, doch schenkt er uns immerhin ein Fundstück aus der Berliner Märzrevolution, den Zettel am Denkmal Friedrich II, mit dem die Berliner vergeblich ihren Wunsch nach einem Regierungswechsel anmeldeten.
An den Preußen demonstriert Münkler nachdrücklich die ambivalente Deutung des jeweiligen Mythos: Als ebenso diszipliniert wie dünkelhaft galten sie. Ihr größter König, eben jener alte Fritz, stand der Aufklärung ähnlich nahe wie dem Rohrstock, und wenn er auch als der deutscheste aller Preußen in die Geschichte einging, sprach er doch weit besser Französisch als Deutsch. Die wahrscheinlich letzte Mythengestalt der Preußen, Königin Luise, starb jung genug, um als politische Märtyrerin, Widerpart des Napoleon, in die Volksgeschichten einzugehen. Das Ende der Preußen macht Münkler im "Tag von Potsdam" aus, als die rabiaten Nazis sich im März 1933 mit militärischem Pomp des preußischen Erbes bemächtigten: Genau hier begann die preußische Disziplin zum Kadavergehorsam zu degenerieren, verkam die preußische Offenheit gegenüber Fremden zum Judenhass und Mord.
Maximal zweidimensional war die Nibelungen-Sage zu verwenden: Zwar war Siegfrieds Unverwundbarkeit und Stärke schon zur Vorlage soldatischer Tugenden einzusetzen, aber leider verlor er am Schluss der Mär sein Leben: Kein happy end für Kriegsbegeisterte. Auch Hermann der Cherusker, dessen Legende mit einem 1875 erbauten Denkmal untermauert wurde, hat die Schwäche des Scheiterns, immerhin wurde er von den eigenen Verwandten ermordet. Das hinderte nicht, ihn in Dichtung und Volkserzählung als "Befreier Germaniens" zu feiern und ihn propagandistisch mal für den Kampf gegen Napoleon oder als frühen Gründer der deutschen Nation zu besetzen. Was von ihm bleibt, ist Tourismus. Anders die immer noch virulenten Legenden Preußen: Sie wurden, von Münkler nicht erwähnt, noch zur Gründung des heutigen Landes Brandenburg herbeizitiert: Ihre "Peuplierung", die Besiedlung des Landes mit Fremden, galt als Beispiel für Toleranz und Weltoffenheit. Ob dieser Mythos genutzt hat, die landfremden Wessis zu integrieren, ist unbekannt.
Der Faust-Mythos findet bei Münkler einen festen Platz im deutschen Nationalcharakter, auch wenn er zugleich Nietzsche mit einer anderen Position zitiert: "Eine kleine Näherin wird verführt und unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der Übeltäter . . . Sollte dies wirklich der größte deutsche `tragische Gedanke´ sein, wie man unter Deutschen sagen hört?" - Ähnlich differenziert deutet der Autor den Luther-Mythos, den des deutschen Bildungsbürgertums und handelt sogar über die deutsche "Weinseligkeit", die gerne am deutschesten aller deutsche Flüsse, dem Rhein, stattfindet, wenn nicht gerade mal wieder die nationale Hybris zuschlägt: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall, Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein", textete ein Gedicht, das im Kaiserreich zur inoffiziellen Nationalhymne anvancierte und natürlich gegen die Franzosen, den "Erbfeind", gerichtet war.
Die neue Zeit, jene nach dem Krieg, konnte mit den alten, häufig von den Nazis missbrauchten Mythen wenig anfangen, auch wenn in beiden Teilen Deutschlands die deutschen Sagen und Märchen noch in Schulen gelehrt und an Universitäten seziert wurden. Gründungsmythen taten not und, so entdeckt Münkler, den lustigsten erfanden die Österreicher: Das Land verstand sich plötzlich als "Hitlers erstes Opfer" unter Verweis auf den angeblich gewaltsamen "Anschluss" im Frühjahr 1938. Die DDR berief sich, immerhin mit einer erklecklichen Zahl von wirklichen Opfern grundiert, auf den Antifaschismus ihrer Gründer-Väter und -Mütter, während der Bundesrepublik lange Zeit nichts Rechtes einfiel außer sich als das blanke Gegenteil der DDR zu stilisieren. Wer unbedingt die "Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches" sein wollte, der hatte auch nichts besseres verdient.
Während Münkler boshaft aber nicht völlig falsch den Antifaschismus als "säkulare Staatsreligion" der DDR begreift, sieht er in der Bundesrepublik das "Wirtschaftswunder" und das "Wunder von Bern" als Ersatzmythen mit Identität stiftender Wirkung. Doch so wie er den Kartoffelkönig nicht vermerkt hat, so sind ihm die Übergangsmythen der Westrepublik entgangen: Die Autobahnen, die wir angeblich Hitler zu verdanken gehabt hätten, die Düsenjäger, die nicht die Amis sondern wir Deutschen erfunden haben und das schwere, blutige Leid, erlitten von den deutschen Kriegsgefangen der "asiatischen Russen", das bis in die 60er Jahre hinein die westdeutschen Illustrierten und Groschenromane bevölkerte. Die ersten zwei Volksmärchen waren zur Heilung der blessierten deutschen Seelen infolge derKriegsniederlage gedacht, das dritte war eine Decke rassistischen Hasses, die das schwere deutsche Verbrechen an den Menschen der Sowjetunion bemänteln sollte. Es wäre ein eigenes Kapitel wert gewesen.
Herfried Münkler stellt das Ende der Mythen fest: Sie würden eher durch Schlagzeilen und Werbekampagnen abgelöst. Übersehen hat er den in Gründung befindlichen Mythos der "Deutschen Einheit". Längst hat der Mainstream die ursprüngliche DDR-Oppostion in der Versenkung verschwinden lassen, ist ihm Gorbatschow zu einer Randfigur der deutschen Einheit geworden. Im Zentrum des neuen Geschichtsbildes steht inzwischen die tiefe Sehnsucht "aller" Ost-Deutschen nach der Einheit und der D-Mark, garniert mit einer gehörigen Portion Helmut Kohl, der peu á peu zum zweiten Reichseiniger nach Bismarck gerinnt. Auch wenn Münkler über diese Mechanismen schreibt, begreift er sie doch nicht als neue Mythen und verfehlt so ihr Aufdecken. So bleibt ein freundliches Sommerbuch für die gebildeten Stände, an einem See zu lesen (wenn es denn kein Berg ist), aus dem dann und wann der Kopf zu heben ist, um das beschlagene Weinglas einer intensiven Analyse zu unterziehen.