Um die vorletzte Jahrhundertwende steckten beide noch in den Kinderschuhen: Das Kino hieß damals noch "der Kinematograph"und war eher eine schmuddelige Jahrmarktsattraktion als ein ernst zu nehmendes Medium; die vor allem in England aufkommende Bewegung, die auch den Frauen das Wahlrecht (englisch: suffrage) erkämpfen wollte, nannte man "die Suffragetten", und das klang in den Ohren der von Männern dominierten Gesellschaftsordnung damals so verächtlich wie heute dasWort "Emanze". In einer verdienstvollen Vortrags- und Filmreihe bringt das Berliner Zeughauskino nun beide zusammen. Unter dem etwas prätentiösen Titel "Frühe Interventionen - Suffragetten, Extremistinnen der Sichtbarkeit" (23. bis 27. September) haben die beiden Kuratorinnen Madeleine Bernstorff und Marieann Lewinsky 77 meist kurze Stummfilme aus zahlreichen internationalen Archivenzusammengetragen, die kämpferische Frauen, aber auch ihre weniger politisierten Geschlechtsgenossinnen auf der Leinwand präsentieren. "Ein noch wenig normiertes Kino, das sich selbst beim Erfinden zusieht, nennenn sie es, und dieMühen ihrer Recherchen zahlen sich für den Zuschauer aus in höchst unterhaltsamen und zudeminformativen Abenden.
Gleich zu Beginn gibt es "Radikale (Haus-)Mädchen", kurze, anarchische Episodenum Frauen, die sich auf ganz individuelle Weise gegen die Bürden deralltäglichen Arbeit zur Wehr setzen. Frühe, heute vergessene Stars wie Alma Taylor und Chrissie White malträtieren in ihren "Tilly und Sally"-Filmen ihre männliche Umgebung mit Feuerwehrspritzen und anderen Bosheiten, und streikende Köchinnen vermöbeln wie in den Slapstick-Komödien die Polizei gleich reihenweise. In "Familienbesuch bei Kunigunde" (1912) erledigt die Titelheldin mit ihren zu Besuch weilenden Verwandten die ihr aufgetragene Reinigung der herrschaftlichen Wohnung so gründlich, dass nur ein Haufen Schutt übrig bleibt.
Solch derb proletarisches Aufbegehren fand sein bürgerliches Pendant in den organisierten Kampagnen der Suffragetten. Diese entstammten meist der
intellektuellen Oberschicht und praktizierten ihren emanzipatorischen Anspruch oft durch demonstratives Rauchen in der Öffentlichkeit. Obwohl sie zu Tausenden für ihr Auftreten Haftstrafen verbüßten, kamen sie in den frühen Filmen fast nur als Objekt von Spott und Häme vor. So lässt zum Beispiel in Urban Gads "DieSuffragette" die von Asta Nielsen gespielte Titelfigur Nelly Panburne - eine Anspielung auf Emmeline Pankhurst, den geistigen Kopf der britischen Suffragettenbewegung - sich sogar zu einem Bombenattentat auf das Quartier des politischen Gegners überreden. Im Schlussbild aber sehen wir sie - wohl auf Drängen der Zensur - als reuige Ehefrau und fleißige Gebärerin der Kinder eben jenes reaktionären Lords.
Doch die Suffragetten blieben nicht wehrlos gegenüber solchen Verzerrungen ihrer Ziele. Schon 1912 warnte die Zeitschrift "Lichtbildbühne" vor ihren "neuen Kampfmethoden": sie waren dazu übergegangen, ihre Aktionen von "weiblichen Kino-Operateuren begleiten (zu) lassen", die, wie man den gezeigten Wochenschau-Ausschnitten von Protestmärschen entnehmen kann, ein weit nüchterneres, oft sogar biederes Bild ihres Wirkens einfingen. Mit Beginn des I.Weltkriegs aber stellten viele der Frauenrechtlerinnen ihre Aktivitäten ein zugunsten patriotischen Taumels - in manchen Ländern Europas durften die Frauen erst Jahrzehnte später wählen.
Da viele der einschlägigen Filme von der zeitgenössischen Zensur arg verstümmelt oder nur unvollständig erhalten sind, erscheint das Programm wie ein bunter Flickenteppich aus einer kaum mehr rekonstruierbaren Filmgeschichte. Zwischentitel in vielerlei Sprachen - die allerdings deutsch eingesprochen werden - spiegeln die Misere versäumter Archivierung und die aufwändigen Recherchen der Kuratorinnen wider. Und da der Stummfilm nie wirklich stumm war, müssen auch die Besucher im Zeughaus auf die entsprechende Live-Musikbegleitung nicht verzichten, die sogar mit einer besonderen Rarität aufwartet: Wieslaw Pipczynski spielt an zwei Abenden auch ein Theremin, das erste berührungsfrei (!) gespielte elektronische Musikinstrument der Welt. (Weitere Infos: www.madeleinebernstorff.de)