Was hülfe es dem Menschen
wenn er die ganze Welt gewönne
und nähme doch Schaden an seiner Seele
Matthäus 16/26

Er sei raus aus den politischen Feuilletons, stellt der Pfarrer Schorlemmer fest, keine Rubrik mehr im Berliner "Tagesspiegel", statt dessen darf er, hinter den sieben Bergen, in Suhl, beim "Freien Wort" kommentieren. Aber warum sagt er auch solche Sachen wie "Wer der DDR gerecht werden will, muss die Ambivalenzen sehen" und dann zählt er die besseren Bildungschancen für die von Unten auf und dass es in der DDR keine Angst vor Arbeitslosigkeit gab und die Wohnung nicht als Wirtschafts- sondern als Sozialgut betrachtet wurde. Zwar redet er mit dem zweiten Atemzug auch über alle Schattenseiten der DDR, aber das nutzt ihm schon nichts mehr. Alles nachzulesen in einem Buch mit dem Titel "Vom Privileg des Vergleichs". Ambivalenzen schön und gut, aber doch nicht gegenüber der DDR. Schorlemmer könnte doch nun wirklich wissen, dass sich der Mainstream auf Unrechtsstaat als einzige DDR-Interpretation geeinigt hat. Außerdem geißelt er noch den Maximalprofit und macht sich Sorgen, dass man in einer Gesellschaft, "die nur um das Geld herum gebaut ist" an seiner Seele Schaden nehmen könne. Da muss er sich nicht wundern, dass er raus ist.

Die Journalistinnen Heike Schneider und Adelheid Wedel haben sechzehn ostdeutsche Prominente interviewt, rund zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR. Schorlemmer ist einer von ihnen, zu den anderen gehören Kabarettisten wie Giesela Oechelhäuser, der Schriftsteller Ingo Schulze oder der Filmemacher Andreas Dresen. Und fast alle können sie nicht lassen, von dieser Ambivalenz. Sagt doch Andreas Dresen glatt, der Film "Das Leben der Anderen" sei nichts weiter als ein "Hollywoodmärchen", wo doch der Regisseur des "Leben der Anderen" aus dem Westen genau weiß, dass es sich bei seinem Film um DDR-Wirklichkeit handelt. Und wenn jemand weiß, wie die DDR wirklich war, dann schließlich die aus dem Westen. Wahrscheinlich weil Dresen das nicht einsehen will, lobt er auch noch den kommunistischen Funktionär Lothar Bisky, bloß weil der, als Rektor der Babelsberger Filmhochschule, an der Dresen studiert hat, "ein dialogbereiter und schöpferischer Chef" gewesen sei. Damit kann er nur auf dem Holzweg landen und kaum schreibt man so ein Wort hin, dann taucht er auch schon auf: Der dritte Weg, dieser schmale Pfad zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das ist ein Weg, den viele im Buch "Vom Privileg des Vergleichs" gegangen wären, wenn sie denn nur gewusst hätten wie.

Für den dritten Weg ist Kurt Pätzold, der Historiker und Faschismusforscher, eher nicht zu haben. Er attestiert den DDR-Oppositionellen, die den dritten Weg für eine ernsthafte Option hielten, dass sie "wussten, was sie nicht mehr wollten, aber nicht was an dessen Stelle gerückt werden sollte". Mit dieser kühlen Analyse begegnet er auch dem Sozialismus-Reformer Gorbatschow, von dem er weiß, dass der kein ökonomisches Konzept hatte, dafür aber eine gehörige Portion politischer Naivität. Dessen schwärmerische Position zum "europäischen Haus" karikiert er mit dem Satz, das europäische Haus sei heute bis an die Grenzen Russlands gebaut worden und aus "den nach dort gerichteten Fenstern" ragten die Raketen der NATO heraus. Kein Wunder, dass ein Berliner Arbeitsgericht die Entfernung Pätzolds aus der Humboldt Universität für rechtens hielt, weil er nach wie vor eine marxistische Faschismusauffassung vertrete. Nun gibt es zwar kein Gesetz, das den Marxismus verbietet, aber jene, die solche Auffassungen haben, kann ein Rechts-Staat natürlich nicht auf seine Kinder los lassen.

Fraglos ist die Möglichkeit des Vergleichs ein Privileg. Heraus kommt bei den meisten Interviewpartnern - unter ihnen auch der Publizist Christoph Dieckmann, die Literaturwissenschaftler Therese und Frank Hörnigk und der Theaterregisseur Wolfgang Engel - ein Denken zwischen den Stühlen. Nicht allen bekommt das. Der Schauspieler Peter Sodann, zum Beispiel, flog aus seiner Fernseh-Serie raus, obwohl sie Quote brachte, sein Projekt "Kulturinsel" haben ihm die Stadtstiefväter in Halle weggenommen und seine Bibliothek der geretteten DDR-Bücher ist ohne Obdach, nachdem die Stadt Merseburg einen neuen Bürgermeister von der CDU hat. Das hätte Sodann, der auch mal im DDR-Knast war, weil sein Kabarett-Programm als "konterrevolutionär" galt, doch besser wissen können. Statt dessen hätte er, als Tatort-Kommissar, nicht nur gerne den Chef der Deutschen Bank verhaftet, wie viele andere sich das auch wünschten. Er sagte es auch in aller Öffentlichkeit. Ihm mag das nicht bekommen sein, aber den Lesern bekommt ein Buch, dass nur so von Wahrheiten strotzt und von guten Geschichten auch.