Israel verschickt vor schweren Luftangriffen ernstzunehmende Warnungen per SMS oder Telefonanrufe an die Bewohner betroffener Stadtviertel mit der Aufforderung das Haus zu verlassen und anderswo zu warten, bis es in Trümmern liegt. Das ist die neueste Variante israelischer „Sorge“ um die palästinensische Zivilbevölkerung, jener Sorte "Fürsorglichkeit" des Verbrechers, der vor dem Abdrücken oder Zustechen noch brüllt: „Hau ab, sonst bring' ich Dich um“. Selber schuld, wer nicht rechtzeitig das Weite sucht, um sich in Sicherheit zu bringen! Strafmildernd wirkt das nicht, und im Falle des Massakers in Gaza wird aus dem Bombardement von Wohnhäusern, UN-Schulen und Krankenhäusern deshalb nicht weniger als ein einziges großes Kriegsverbrechen, bestehend aus vielen einzelnen. Doch Netanjahu wird nicht in Den Haag erscheinen.
BBC zeigte eine Szene, die erschaudern ließ: Ein junger Mann liegt im Schutt eines Trümmerfelds, getroffen an der Hand. Er erhebt sie hilfesuchend, will sich aufrappeln, und wird durch einen zweiten gezielten Schuss niedergestreckt, offenbar von einem Scharfschützen der stolzen israelischen Armee IDF. Ein glatter Mord, ruchloses Kriegsverbrechen an einem verletzten Zivilisten! „Aber den Schützen hat man doch nicht gesehen. Es könnte doch auch ein Palästinenser gewesen sein; die Hamas macht sowas, die bringen auch ihre eigenen Leute um“, versuchte ein blinder Israel-Verteidiger die schmerzlichen Bilder zu entkräften, ganz vernagelt im missionarischen Ernst seiner Rechtfertigungs-Offensive. Soweit ist es gekommen: Die Opfer sind selber schuld und haben sich selbst umgebracht.
Das glaubt nicht einmal mehr Angela Merkel, die sonst so bedingungslos treue Israel-Unterstützerin. Sie spricht mittlerweile von „überzogenen Maßnahmen“ und „unverhältnismäßigen Militär-Aktionen“. Das will etwas heißen bei ihr. Im diplomatischen Schönsprech ist das nicht weniger als ein Warnschuss vor den Bug, oder in ihrem Fall eher ein Hilferuf: „Halt ein, Bibi, ich kann eure Kriegsführung bald nicht mehr verteidigen“. Es wird an ihrer „Staatsraison“ vermutlich nichts ändern, doch zeigt es ihr Dilemma. Die verhärmte Hartleibigkeit ist derzeit oberste Bürgerpflicht bei allen unkritischen Freunden Israels. Dabei „vergessen“ sie geflissentlich: Mensch ist Mensch. Mord bleibt Mord. Es fällt ihnen nicht leicht, ihre Fahne hochzuhalten, die so besudelt ist. Dennoch tun sie es trotzig provozierend und unbelehrbar. Natürlich nur, um vor einer neuen Welle des "Antisemitismus" zu warnen. Aus lauteren Motiven sozusagen.
Es gibt ihn tatsächlich, latent und akut, gerade auch in Deutschland. Ein Bodensatz von 25 bis 30 Prozent äußert in Umfragen antisemitische, rassistische Klischees und Ressentiments. Umso wichtiger wäre es ihm den Boden zu entziehen. Stattdessen soll er weggeredet werden mit empörten Sonntagsreden bei gleichzeitiger Rechtfertigung der Gaza-Zerstörung. Selbst der DGB macht da hilflos mit. Doch der Trick will nicht mehr so recht verfangen, jede Kritik, jeden Protest, jede Empörung gegen Israels Kriegs-, Besatzungs-, Blockade- und Siedlungs-Politik wegzuwischen. Der „staatlich verordnete“ Pro-Zionismus läuft immer mehr ins Leere. Die berechtigte Warnung vor Antisemitismus sollte an Israel gerichtet sein: Eure Politik trägt dazu bei ihn wiederzubeleben! Doch was da an Wut und Empörung bei den Palästina-Solidaritätsdemonstrationen erschallt, ist etwas grundlegend anderes als stumpfe Vorurteile oder verstockter Hass auf Juden, ob sie nun hier oder anderswo leben. Es ist ein Schrei nach Frieden, ein Appell an die Vernunft, eine Forderung nach Ende des Gemetzels. Gewiss auch Hass auf Israel.
Dabei geht es nicht um dümmlich-mittelalterliche Verdächtigungen judenfeindlicher Progrom-Schreier, „die Juden“ würden Kinder töten, um daraus Matze zu machen. Es geht um den konkreten Vorwurf, dass Israel wahllos Zivilisten, Frauen und Kinder tötet, um die Hamas „auszurotten“. Dass Israel mit Judentum identifiziert wird, liegt nicht zuletzt am Zentralrat der Juden in Deutschland. Der hat jahrelang die Israel-Kritiker als verkappte „Antisemiten“, notfalls als „jüdische Selbsthasser“ zu diskreditieren und mundtot zu machen versucht. Nun schlagen über dieser absichtsvoll herbeigeredeten Gemengelage die Bomben und Raketen und Mösergranaten der israelischen Streitkräfte ein. Im Rauch der Explosionen wallen die Gemüter auf, und schon erscheinen alle bitteren Anklagen und verzweifelten Klagerufe wie „Judenhass“. Dabei ist es blanke Israel-Verdammung, mit Recht. Der perfide Trick der freiwilligen Hilfswilligen und "Selbstverteidigungs"-Lobbyisten Israels besteht darin, Antizionismus mit Antisemitismus in Eins zu setzen.
Die vorhergehende Warnung soll den Bombenabwurf, die Hauszerstörung, die Erpressung, den Mord ins Recht setzen. Nach einer kurzen Benachrichtigung sei die Zerstörung des definierten Ziels legitim*. Eine Rechtsauffassung, die sich nur Zyniker ausdenken konnten. Der Rechtsbrecher kündigt den Rechtsbruch an, und meint straffrei zu bleiben. Ein kläglicher Versuch, dem unvermeidlichen Vorwurf zu entkommen, welcher allenthalben sich erhebt, und dessen niederschmetternde Botschaft nun tragische, alltägliche Wirklichkeit geworden ist im Schlachtplan der Zionisten: Israel tötet Kinder.
Der Israel-Hass bekommt täglich neue Nahrung aus den Nachrichten über das Morden in Gaza: Bisher über 1260 Tote, über 7000 Verstümmelte, Verkrüppelte, Verwundete. Auf der anderen Seite: Knapp 60 Tote, fast ausschließlich israelische Soldaten, kaum Zivilisten. Das übliche Verhältnis im herzlosen „Body-Count“. Mit jedem Tag werden es mehr, in Hunderterschritten. Jedes Kriegsopfer ist eines zuviel!
Die Hamas-Raketen werden zu großen Teilen abgefangen oder explodieren ungesteuert auf freiem Feld. Die israelischen „Präzisionswaffen!“ radieren treffsicher genau das aus, was die Lebensgrundlage der Menschen im „größten Freiluft-Gefängnis der Welt“ sicherstellen soll: Die Infrastruktur, zuletzt das einzige Kraftwerk im Gazastreifen, dessen Öltanks abfackelten. Es versorgte ein Drittel des Gazastreifens mit Elektrizität, der Rest kommt aus Israel. Damit gibt es nicht nur kaum Strom (schon jetzt nur zwei bis drei Stunden am Tag), sondern auch bald kein Wasser mehr, denn die meisten Brunnen benötigen Strom für die Pumpen. Und auch der Diesel für die Generatoren bleibt zwangsläufig aus, wenn die Tunnel restlos zerstört sind, wie Netanjahu es plant und angekündigt hat. Dann verdurstet Gaza, ähnlich wie 1904 die 30.000 Hereros vor den deutschen „Schutztruppen“ in Namibia. Es riecht verdammt nach Völkermord.
Die „menschliche“ Geste, jemanden vor der Zerstörung seines Eigentums zu warnen, kann als Fortschreibung jener absurden Vorstellung von „humanitärer Aktion“ gelten, mit der Bombenkriege seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bemäntelt und als notwendige „Befreiungs-Intervention“ verkauft werden. Damals wurde mit frecher Ansage die serbische Infrastruktur zerklumpt, wurden Krankenhäuser und Schulen, die chinesische Botschaft und die staatliche Rundfunkstation, Brücken, Bahngleise und Wohnhäuser zu Schutt verarbeitet. Allerdings hatte die NATO noch nicht alle Telefonnummern von Belgrad eingespeichert. Es tönten konventionelle Luftschutzsirenen. Da ist Israel als neuerliche Besatzungsmacht im Gaza-Streifen technisch deutlich weiter mit seinem „Service“. Man lässt der gegnerischen Seite eine Chance, die keine ist. Es gibt so gut wie keine Bunker in Gaza. Wohin sollen die Leute fliehen?! 200.000 Schutzsuchende! Gaza ist dicht, Artilleriefeuer zerfetzt die Flüchtenden. Ganze Straßenzüge lagen übersät mit Leichen. Netanjahu will bis zum endgültigen Sieg über die Hamas so weitermachen, verkündet eine „lang anhaltende Militäraktion“. Kerry mahnt dagegen, die Hamas nicht komplett „auszuschalten“. Denn was aus dem jüngst gesäten Hass erwüchse, könnte noch weit schlimmer werden. Selbst eingefleischte Antideutsche ahnen in diesen Tagen: Israel geht zu weit.
Noch weiter wäre es, wenn bei Drohnen-Exekutionen vorher ein Warnschuss abgegeben würde: Schalten Sie Ihr Handy ein und sprechen Sie letzte Worte. Wir erschießen Sie in zwei Minuten. Bleiben Sie auf Empfang, damit wir Sie gut orten können! Das wird vielleicht noch kommen, bevor sich die israelische Gesellschaft endlich dazu entschließt, sich zu therapieren. Dazu muss Druck von außen kommen, aus Europa, aus Deutschland. So würde die Bundesrepublik ihrer wirklichen historischen Verantwortung tatsächlich gerecht, indem sie diesen Wahnsinn nicht mehr unterstützt, Waren-Importe aus den besetzten Gebieten boykottiert und keine Waffen und U-Boote mehr an Israel liefert und dazu noch aus Steuermitteln subventioniert. Das sinnvollste, was wirkliche Freunde der Israelis tun könnten, wäre zu raten: Israel auf die Couch!
* Das beklagt Yuli Novak, 32, am 28. Juli 2014 in der Süddeutschen Zeitung; sie diente 2000 bis 2005 in der israelischen Luftwaffe, zuletzt als Oberleutnant. Seit 2013 ist sie geschäftsführende Direktorin von „Breaking the Silence", einem Zusammenschluss regierungskritischer Soldaten.