Dies Erdenleben, wem soll ich es vergleichen? Wie wenn von Booten, früh hinausgerudert, keine Spur zurückbleibt.
Yamanoe Okura
Hartmut Binder hat das ultimative Monumentalwerk vorgelegt: »Eine Lebenschronik in Bildern« auf 687 Seiten im Format 25 x 30 cm mit 1214 Bildern aus Franz Kafkas Lebensumfeld./1/ Das Zeitalter der Fotografie war rechtzeitig ausgebrochen. Zwei Weltkriege und der Holocaust haben das Material dezimiert, aber nicht vernichten können. Durchgehend schwarzweiße Abbildungen suggerieren die gehörige kafkaeske Tristesse. Trotzdem hätte man die wenigen farbigen Belege adäquat reproduzieren sollen, denn in Wirklichkeit war Kafkas Welt bunt.
Entstanden ist ein Memento mori der Habsburger Monarchie, geschrieben in der guten alten Rechtschreibung, gedruckt auf nicht satiniertem Papier, fadengeheftet, in Leinen gebunden. Ein Buch, das mit Liebe gemacht wurde. Wenn alle Bücher dieser Erde mit ein wenig Liebe gemacht würden (vor allem die Bedienungsanleitungen und Gesetzbücher), es wäre ein paradiesisches Lesen!
An Franz Kafka wurde schon so viel herumgedoktert, dass man sich unwillkürlich fragt: Was gibt uns dieses dickleibige Bilderbuch Neues? Sind drei Spalten in der »Deutschen Biographischen Enzyklopädie« nicht hinreichend für ein ziemlich kurzes und sehr unspektakuläres Leben? Die Literarhistoriker leben von der wahnhaften Vorstellung, die Dichter hätten uns ihre Biografie hinterlassen und nicht ihre Werke. Doch das Dasein ist privat, das Werk wird öffentlich. Viele Literarhistoriker können zwischen Autor und Werk nicht fair unterscheiden, weil sie als Berufskleidung ideologische Scheuklappen tragen. Deshalb hat der Egomane Karl Kraus ein etwas blutrünstiges Verdikt über sie gesprochen./2/ Aber Hartmut Binder sei stellvertretend für all seine Kollegen Absolution erteilt, denn ihm ist ein opulenter Bildband über das kakanische Prag gelungen, garniert mit so viel Kafka, als irgend möglich. Er hat eine reich bebilderte Kulturgeschichte untergegangenen deutschen Geisteslebens an der Moldau gegeben und dem einstmals blühenden deutsch-jüdischen Kulturbetrieb in Prag ein bleibendes Denkmal gesetzt. Die Bilderchronik, gewiss ein Ergebnis lebenslangen Sammelfleißes, gepaart mit bemerkenswerter Kombinationsgabe und intimer Kenntnis der zeitgenössischen literarischen Überlieferung, krönt sein Lebenswerk. Leider kann man den Sieben-Pfund-Wälzer nicht in einer Hand halten und mit ihm auf Kafkas Spuren durch die Goldene Stadt pilgern./3/
Die Bilder gewähren den Vorkriegsblick auf das deutsch-jüdische Bürgertum in der alten Stadt Prag, das im Schutz der K.u.k.-Monarchie gewachsen ist, vielfach gefährdet durch den deutschfeindlichen tschechischen Nationalismus, katholischen Antijudaismus und den neu entstehenden, »rassisch« motivierten Antisemitismus. Die jüdische Jugend beteiligt sich in dieser Sprach-Enklave am deutschen Geistesleben der Zeit, literarisch-künstlerisch, enthusiastisch, suizidgefährdet. Wie Binder dokumentiert, ist auch Kafka ist völlig den Modeströmungen der Zeit verfallen. Er beschäftigt sich mit Zionismus, Naturheilkunde, Nacktkörperkultur, Sport, Vegetarismus, Antialkoholismus. Zwar findet das Pilsener Bier keine Erwähnung, dem die Tschechen Gesundheit und langes Leben verdanken, aber »Kafka trank zeitlebens Bier« (S. 315). Er ist eifriger Kinogänger und lernt Hebräisch. Dabei kämpft Kafka zeitlebens mit Hemmungen, die wohl nur teilweise aus privater Erziehung und öffentlicher Prüderie der Zeit zu erklären sind. Als Ersatzhandlung entstehen Texte, in die er seine Ängste projiziert. »Wie die Verdammten Swedenborgs in einer Kothölle leben, so diese Menschen Kafkas in einer Gewissenshölle.« schreibt Albert Soergel sehr hübsch./4/
Kafka begegnet vielen Berühmtheiten seiner Zeit, wobei die Wertigkeit der Überlieferung durch die Zeitgenossen anscheinend zwischen authentisch und spurios schwankt, wenn man dem Biografen glauben darf. So lernt Kafka 1912 im Jungborn (einer Gesundheitsfarm) Guido von Gillhaußen kennen, der im August 1914 eine Vision vom Untergang des deutschen Kaiserreichs erleidet. Kafka hat Berührung mit Literaten, die uns heute noch ein Begriff sind, wie Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Kurt Tucholsky und Egon Erwin Kisch. Er spricht mit Rudolf Steiner und Albert Einstein. (Einstein charakterisiert die Prager deutschjüdische Gesellschaft als mittelalterlich und weltfern.)
Das Buch gibt umfassende Aufschlüsse über Kafkas Körperertüchtigung (sein nach dem Erfinder so genanntes »Müllern« nennt man heute Kraftsport), seine lebensreformerischen Selbstversuche, wie Sonnenbäder, fleischlose Ernährung und Abstinenz, sein Unternehmertum (er gründet mit einem Verwandten eine Asbestfabrik) und das etwas literarische Liebesleben, wie z. B.
Nein! Diese Genüsse muss sich jeder selbst erlesen.
Zum Schluss ein paar humorige Fundstücke.
Wie Kafkas Freund Max Brod berichtet, betrug die tägliche Arbeitszeit für die Beamten Kakaniens fünf bis sechs Stunden, das heißt, sie war anders als heutzutage auf das wirkliche Arbeitspensum reduziert!
Einmal findet Kafka sogar in einem nichtssagenden Polizeispitzelbericht Erwähnung, wie er ähnlich in manchen Stasiakten begegnet (Abb. 353 auf S. 201).
Mitunter entdeckt man subtile Glanzleistungen des Biografen.
Mailänder Dom: »Unter den 366 Wasserspeiern des Doms ist der abgebildete der einzige, der Kafkas Beschreibung entspricht.« (zu Abb. 417 auf S. 237)
Städtische Lesehalle: »Unter den aushängenden tschechischen Zeitungen sind drei Exemplare des Čas zu sehen, der gelegentlich auch von Kafka gelesen wurde.« (zu Abb. 859 auf S. 470)
Café Dianahof: »Das Team des Dianahofs.
ganz außen die Klofrau.« (zu Abb. 887 auf S. 486)
Was fehlt? Unbedingt ein Personenverzeichnis. Wünschenswert wäre auch ein Stammbaum der weit verzweigten Sippe der Kafkas, denn die Verbalbeschreibung der Verwandtschaftsverhältnisse entzieht sich dem ordnenden Verständnis, wie die Vor- und Vatersnamen in einem Roman von Dostojewski. Dieser Stammbaum sollte dem Wälzer lose beiliegen, ebenso der ausfaltbare farbige Reprint eines Prager Stadtplans um 1900. Das ist auch schon alles, was mir verbesserungswürdig scheint.
Gewiss kommt diese Bildchronik etwas spät, denn Kafka ist längst kanonisiert, freigegeben zur Pflichtlektüre, unsterblich als Thema des Prüfungsaufsatzes. Hilft uns so ein Buch bei dem Verständnis der hermetischen Schriften Kafkas? Vielleicht. Es ist gleichsam ein Reallexikon zu Kafkas Werk,/5/ das uns Gegenstände der sichtbaren Welt vor Augen führt, die Kafka seiner imaginierten Parallelwelt anverwandelt haben könnte. Allerdings ist beim Verfolg solcher Spekulationen Vorsicht geboten, denn alle professionelle Interpretation artet irgendwann in Schulfuchserei aus. Manche Dichter sind sehr verständlich, aber kaum erklärbar. Franz Kafka bleibt ein rätselhafter Autor des 20. Jahrhunderts, das wahrlich nicht arm ist an Rätseln.
Anmerkungen
/1/ Zum Vergleich: Flodoard Frhr. v. Biedermanns »Chronik von Goethes Leben«, erschienen 1931 in der Inselbücherei (Nr. 415), umfasst 86 Seiten im Kleinoktavformat.
/2/ In der »Razzia auf Literarhistoriker«: » Ich will die, die es schon sind, verstümmeln und darum die nachfolgenden verhindern.« Karl Kraus, Grimassen. Auswahl 1902-14, Berlin 1971, S.403
/3/ Dafür gibt es literarische Stadtführer durch Prag: z. B. Hartmut Binder, Prag. Literarische Spaziergänge durch die Goldene Stadt, Stuttgart 1992 u. ö.
/4/ Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. Neue Folge: Im Banne des Expressionismus, Leipzig 1926, S. 870
/5/ Von Hartmut Binder gibt es bereits ein zweibändiges Kafka-Handbuch, erschienen Stuttgart 1979.