Mein rheinisch-katholischer Großvater war, nachdem er in und unter zwei Weltkriegen gelitten hatte, in Religionsfragen zunehmend heikel geworden: "Ich glaube, drei Pfund Rindfleisch geben eine gute Suppe!", war die einzige Glaubensgewissheit, die man ihm entlocken konnte. Das hätte ihn damals wie heute schneller in die Exkommunikation geführt, als man Hergottnochmal sagen kann, wäre seine Haltung der Kirche bekannt gewesen. Aber selbst aus den Sitten und Gebräuchen seiner Heimat und Herkunft austreten, das wäre ihm zu viel der Skepsis gewesen, die Form wurde gewahrt. Doch während die Gotteshäuser im Westen des kriegskaputten Deutschland anfänglich noch gut gefüllt waren, wurde der christliche Glaube nach dem Ende der Not als Gehhilfe immer weniger gebraucht. Zwar bezogen und beziehen sich die "C"-Parteien in ihrem Namen auf Christus, aber auch deren Führungspersonal ist an Sonntagen eher an politischen Stammtischen als in Kirchen zu finden. Mit den päpstlichen Beerdigungs- und Inthronisierungs-Vermarktungen der letzten Jahre kehrte der Glaube zumindest als Groß-Event wieder zurück ins deutsche TV-Programm und damit auf die Tagesordnung der Gefühle. Und nun Ratzinger mit seinem Buch "Jesus von Nazareth".

Papst Benedikt XVI bittet auf dem Umschlag seines Buches den Leser "um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt". Was ich ihm gern gewähren kann, ist Fairness, ist jene sachliche Neutralität, zu der ein ordentlicher Atheist in religiösen Fragen verpflichtet ist. Deshalb wird sich diese Rezension mit weiten Teilen des Buches nicht auseinandersetzen. Denn über Glauben, jene metaphysische Angelegenheit, die über das Leben nach dem Tod handelt, kann man nicht streiten, das glaubt man oder eben auch nicht. Aber es gibt in Ratzingers Buch - eine Arbeit, die sich wesentlich auf die Exegese der Evangelien bezieht - wiederum im Klappentext, eine programmatische Bemerkung des aktiven Papstes, die aufmerken lässt: "Ich denke, dass gerade dieser Jesus - der der Evangelien - eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist." Darum also geht es: Aus der historisch schlecht belegten, im präzisen Sinn des Wortes legendären Erscheinung des Sohnes eines Gottes etwas Stimmiges zu konstruieren. Kein seriöser Historiker käme auf die Idee, von der historisch stimmig bewiesenen Figur des Cäsar zu fordern, sie möge außerdem noch sinnvoll sein. Cäsars Sinn lag in seiner Existenz, war eingebettet in die Geschichte Roms und deren Sinn. Dem Buch geht es also darum: Dem jüdischen Wunder-Rabbi Jesus, dessen Geschichte von den Evangelisten siebzig und mehr Jahre nach dessen Tod und nach dem Hörensagen aufgeschrieben wurde, einen Sinn in einer Welt voller Zweifel zu geben. Oder gar der Welt einen Sinn aus Jesus heraus zu geben, um dem Zweifeln ein Ende zu bereiten.

Die Zeit für Ratzingers Buch ist gut gewählt: Der Kampf der Kulturen, mehr und mehr zu einem Kampf der Religionen geraten, verunsichert viele Menschen. Die christlich-fundamentalistische Grundierung der USA-Politik hat ihre Auswirkungen auf die gesamte Welt. In Deutschland wurde ein Bundespräsident ernannt, der in seiner ersten Ansprache die religiöse Formel "Gott schütze unser Land!" benutzte. Immerhin vierundsechzig Prozent der Deutschen glauben heute an Gott. Das sind vierzehn Prozent mehr als noch im Jahr 1992. Und selbst der nicht religiöse Philosoph Habermas sorgt sich, dass "die verlorene Hoffnung auf Auferstehung" eine spürbare Leere hinterliesse. Dem Mystiker Woytila, dem polnischen Papst im Ruche der Heiligkeit, war noch der Kampf gegen den Kommunismus die wesentliche Herzenssache. Der als intellektuell geltende Ratzinger hat sich die bürgerliche Aufklärung vorgenommen. Seiner europäischen Herkunft gemäss, einer weitgehend entkirchlichten Umgebung entsprechend, ist der Ton seines Buches moderat und höflich. Aber auch wer dauerhaft lächelt, zeigt die Zähne und so taucht schon nach der fünfzigsten Seite, im Kapitel über die Versuchungen Jesu, der ideologische Ratzinger auf, wenn er die Benediktinerklöster des Abendlandes als "Oasen der Schöpfung" bezeichnet, während Tschernobyl als Ausdruck "der im Gottesdunkel verknechteten Schöpfung" herhalten muss.

Die vom Papst zitierten Oasen waren um 700 Ausgangspunkt der Missionierung heidnischer Friesen, Hessen und Thüringer, sie führten einen frühen deutschen Kreuzzug an, bei dem es nicht zimperlich zuging. Mit der Verbreitung des "wahren" Glaubens waren Feldzüge und Landgewinn verbunden und wer einen katholischen Religionsunterricht hinter sich hat, der wird sich daran erinnern, dass es damals der Benediktiner Bonifatius war, der, in der Nähe des hessischen Fritzlar, die Donar-Eiche eigenhändig fällte, eine symbolische Enthauptung des heidnischen Gottes und seiner Klientel. Bis ins Hochmittelalter hinein waren die Benediktinerklöster eng mit dem europäischen Feudalsystem verbunden. Was das für Kleinbauern und Leibeigene bedeutete, ist bekannt. Weniger bekannt ist die Ursache des abnehmenden benediktinischen Einflusses: Die Bedeutung der Städte nahm zu, von Ihnen ging die Modernisierung des düsteren Mittelalters aus. Stadtluft machte frei, Landluft konservierte alte Abhängigkeitsverhältnisse, die Mönche besassen mit dem Aufkommen der Städte kein Monopol mehr aufs Schreibenkönnen, die Wissenschaft verließ die Klöster und siedelte bei den Kaufleuten und den Zünften. Genau an dieser Stelle ist die Denkweise Ratzingers gut zu fassen: Die religiöse, ländliche Schein-Idylle wird ausgespielt gegen den atheistischen, technizistischen Teufelskram wie er, nach des Papstes Meinung, in Tschernobyl kumulierte: Mit dem Super-GAU des gottlosen Kommunismus werden von ihm zugleich ein paar Jahrhunderte Wissenschaft und Aufklärung als das "Böse" enttarnt, wenn der Autor in diesem Zusammenhang schreibt: "Sie (die Versuchung) lädt uns gar nicht direkt zum Bösen ein, das wäre zu plump. Sie gibt vor, das Bessere zu zeigen . . . und uns tatkräftig der Verbesserung der Welt zuzuwenden."

Die Verbesserung der diesseitigen Welt, gegen die der Papst keine direkten Einwände haben kann, wird von ihm erneut, in der zweiten Versuchung Jesu, gegen die Heilserwartung des Jenseitigen ausgespielt. Da ficht der "Versucher" den Jesus an, er möge doch seine Rolle als Erlöser nachweisen, indem er aus Steinen Brot mache. Da ist er aber bei Jesus und dem epigonalen Ratzinger an die Richtigen geraten: So schlichte, diesseitige Gottesbeweise wollen wir dem Herrn nicht abfordern: "Der Marxismus hat genau diese - höchst begreiflicherweise - zum Kern seiner Heilsverheißung gemacht: Er werde dafür sorgen, dass aller Hunger endet und dass die `Wüste zu Brot wird´. Zwischen den Zeilen, die dies notieren, ist dem Papst der Stoßseufzer der Erleichterung nachzulesen: Es hat nicht geklappt. Weil, hätte es, dann wäre die ganze Jenseitigkeit, mit der die Kirche hausieren geht, in ein kümmerliches, esoterisches Nichts zusammengefallen. So kommt dem Papst, der sich gerne öffentlich als Friedensstifter versteht, auch der Frieden eher als ideologisches Instrument in die Hand, denn als politische Sehnsucht: "Dass da, wo Gott den Menschen außer Sichtweite gerät, auch der Friede verfällt und die Gewalt mit vorher ungeahnten Grausamkeiten überhand nimmt, sehen wir heute nur allzu deutlich." Ach, Ratzinger, welcher Gott gerät denn im Irak außer Sichtweite: Der christliche der USA oder der schiitische oder der sunnitische? Wenn es doch alles so einfach wäre wie damals im Katechismus-Unterricht.

Wenn der Lächler auf dem Papststuhl das Vater-Unser zwischen die Zähne nimmt, ist ihm die "Erlösung von dem Bösen" wieder einen Hieb gegen die Aufklärung wert: "Dies (das Böse) ist gepaart mit der Zersetzung der sittlichen Ordnungen durch eine zynische Art von Skepsis und Aufklärung." Und weil es doch immer wieder der Wunder bedarf, wenn der Glaube der Rationalität entgegengesetzt sein soll, wird zwischendurch eines behauptet: "Der Schöpfer hat dem Meer seine Grenze gewiesen, die es nicht überschreiten darf: Es darf die Erde nicht verschlingen", schreibt uns Benedikt XVI ins Poesiealbum und schert sich nicht um Klimakatastrophen und Tsunamis. Wenn der Autor meiner Sympathie, die er als Vorschuss einforderte, nahe kam, dann an solchen Stellen: Dort tauchte der liebe Jesus meiner Kindheit auf, der Jesus, der die Wange hinhielt, der verlangte seine Feinde zu lieben, der mit den Heiligenbildchen, die noch in meiner Volksschule statt Fleißkärtchen für gute Leistungen ausgegeben wurden. Jener entkirchlichte Jesus, der auf dem Schulhof keine Trennungslinie zwischen den evangelischen und katholischen Schülern zog, der, anders als seine Würdenträger, nicht wegen jeder schlichten Selbstbefleckung seinen Gläubigen mit der Hölle drohte sondern Erlösung von den Übeln versprach.

Das Papst-Buch ist viel gekauft, wird viel gekauft werden, ob es gelesen wird, darf bezweifelt sein. Doch hat es für die Amtskirche seinen Wert auch als Talisman: Es steht dann in Regalen und ist ein Ausweis dafür, dass es ein Leben vor dem Lesen gibt, ein Leben mit einem Gott als Versicherungspolice. Weder Ihr Buch noch Ihr Glaube, sehr geehrter Herr Ratzinger, wird uns von den Übeln des Afghanistan-Krieges, der Arbeitslosigkeit oder des Hungers in der Welt erlösen. Kein höheres Wesen rettet uns vor der Gier der Profitmacher oder der Dummheit der Politiker. Uns aus dem jeweiligen Elend zu erlösen, das können nur wir selber tun. Und auf dem Weg dort hin ist es nicht der Glaube, diese Krücke der Ohnmacht, die Instrument der Menschen zur Befreiung sein kann. Es ist nur der tägliche Zweifel, der uns einer nächsten Lösung entgegen treibt, um dann wieder einen neuen Zweifel zu entdecken und die alte Lösung zugunsten einer neuen zu verwerfen.