Konfuzius sprach: Ich habe es selbst noch erlebt, dass ein Geschichtsschreiber Lücken im Text ließ, wenn er sich nicht sicher war. Das gibt es heute nicht mehr.
Wer in der Sommerglut Unter den Linden spazieren geht und gerade keine Lust verspürt, bei Madame Tussaud den einen oder andern Kopf abzurupfen, dem empfiehlt ein Berliner Radiosender aktuell den Museumsbesuch. Wegen der Aircondition! Also rein ins Deutsche Historische Museum (DHM, vulgo Zeughaus) und ab in die Katakomben des Anbaus. Hier läuft noch bis zum 31. August die gut gekühlte Ausstellung »Gründerzeit 1848 - 1871: Industrie und Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich«.
Der Titel wirkt etwas irreführend, denn die Gründerzeit ist philologisch »die zeit des z. th. in ungesunde formen übergehenden wirtschaftlichen aufschwungs in Deutschland nach dem kriege von 1870/71«./1/ Allerdings wurde der historisch nur bis 1873 reichende Zeitraum (die »Gründerära«) schon bald kunstgeschichtlich bis zum Jugendstil ausgedehnt und gleichgesetzt mit der Blütezeit des Historismus. Der Begriff »Gründerzeit« wird jedoch von den Herausgebern des Katalogs metaphorisch so verstanden, wie ihn der auf Seite 18 zitierte Werner Sombart/2/ im Jahr 1921 verwendet: Eine rechte »Gründerzeit« sind also die 1850er Jahre. Dagegen wird im Text die eigentliche Gründerzeit als »Gründerboom« bezeichnet, ein unglücklicher Neologismus.
Der wunderliche Untertitel »Industrie und Lebensträume« sollte wohl ursprünglich eher banal »Industrialisierung des Lebensraums« lauten und wurde dann verschlimmbessert.
Die Sonderausstellung behandelt die Industrialisierung Deutschlands zwischen Vormärz und Kaiserreich, ein Ereignis, das entfernt erinnert an die gegenwärtigen Vorgänge in China. Die Produktion wird unter unerhörter Ausbeutung der Arbeiter vervielfacht, die Massenprodukte sind großteils minderwertig. Die Aussteller suggerieren ein wenig den falschen Eindruck, durch Fleiß und Erfinderreichtum hätte Deutschland damals Weltgeltung erlangt. Das sollte dem Kaiserreich vorbehalten bleiben. Der im Katalog nur en passant erwähnte Franz Reuleaux, seit 1864 Lehrer an der Berliner Gewerbeakademie, seit 1868 ihr Leiter, prägte 1876 in seiner Besprechung der Weltausstellung von Philadelphia für die deutschen Erzeugnisse das Urteil »billig und schlecht«./3/ Ein 1887 verabschiedetes englisches Gesetz, nach dem alle Waren mit ihrem Herkunftsland gekennzeichnet werden mussten, richtete sich ursprünglich gegen diese deutsche Billigwarenkonkurrenz. Nach Reuleaux' Kritik wurde die Qualität der Erzeugnisse im Deutschen Reich stetig verbessert und »made in Germany« bezeichnete bald kein Stigma mehr, sondern galt als Bürgschaft für die Güte eines Produkts. Franz Reuleaux hätte sich eine Kurzbiografie im Katalog wohlverdient.
In Wort und Bild, mit Wohnsitz und Hausrat werden die Dynastien der Industriemagnaten und Bankiers vorgezeigt. Es wimmelt von Borsig, Krupp, Thyssen, Siemens, Stumm, Rothschild, Oppenheim. Allein die ehrenwerte Familie Villeroy & Boch okkupiert die Katalogseiten 228 - 230. Wandrer, wenn du heut nach Mettlach kommst und dir preiswert ein paar Stücke Weihnachtsschmuck von Villeroy & Boch (2. Wahl) für deine Schwiegermutter gönnst, dann haftet ihnen ein Aufkleber an: made in Thailand. So ist die Globalisierung!
Reichlich Raum erhalten auch die Erfinder und Entdecker mit ihren Kladden und Sudelheften. Die Anilinfarbenkoffer und die erotischen Stereodaguerreotypien begeistern ebenso, wie das Schnupftuch mit Kaiser Wilhelms Konterfei.
Der heimliche Exhibition-Spanner, der intime Dinge entdecken will, etwa Kaiser Wilhelms Korsett oder das Nachtgeschirr Bismarcks, er wird herb enttäuscht. Denn die diversen Stiftungen, Sammlungen, Museen, Archive, Institute, Galerien und privaten Leihgeber haben nur die alleredelsten Devotionalien gesandt, keine Bruch-, Bart- und Damenbinden, wie sie typisch sind für die Zeit, sondern mindere Prunkstücke: neusilberne Diademe, mahagonifurnierte Schränke aus Kiefernholz mit der Anmutung griechischer Tempel, nussbaumfarbene Kredenzen in der Art gotischer Tabernakel, pompös vergoldete Messingpokale. Dazu viel stahlstichige Aktienkunst.
Apropos - auch das DHM muss sparen. Aber wenn man eine Ausstellung in einem Keller macht, sollte sie gut ausgeleuchtet sein, egal wie finster die Zeiten sind - es sei denn, der Absatz des Katalogs muss befördert werden. Ein Pfadfinder schrieb ins Gästebuch: Leider habe ich meine Taschenlampe vergessen. Über dem Gästebuch prangt der
Gedenkspruch.
Stosst an: Ein Hoch dem deutschen Reich!
An Kühnheit reich, dem Adler gleich
Mög's taeglich neu sich staerken.
Doch Gott behüt's vor Klassenhass,
Und Rassenhass und Massenhass
Und derlei Teufelswerken!
Karlsruhe 16. febr. 1881. Jos. Victor v. Scheffel/4/
Nun ja. Aber der Katalog! Leute, welch ein Katalog! Über 500 Seiten Text und farbige Abbildungen. Es folgen 20 Seiten Anmerkungen, darauf ein richtiges Personenregister, ein ausführliches Literaturverzeichnis und Autorenregister. Deutsche Wertarbeit - für Katalogsammler ein Muss. Dieser Katalog enthält viel mehr und doch weniger als die Ausstellung: Erläuternde Texte mit reichlich historischen Illustrationen, größtenteils stibitzt aus der Leipziger Illustirten Zeitung. Dafür sind die Exponate nur zur Hälfte abgebildet. Vortrefflich die eingestreuten Kurzbiografien mit Porträts. Nach der kapitalistischen Weihrauchspende im Keller versöhnt der Katalog durch etwas mehr Ausgewogenheit.
Zurück zum Gästebuch, das uns bemerkenswerte Einsichten der Besucher vermittelt. Ein Chinese pinselte enttäuscht hinein: Haben die Deutschen den Namen Karl Marx vergessen?/5/ Kalle ist zwar im Katalog mit Foto und Lebenslauf bedacht, in extenso durfte er den Museumsbesuchern jedoch nicht zugemutet werden. Immerhin könnten Schulkinder aus Bayern darunter sein. Dafür ist Ferdinand Lassalle mit einem Plakat vertreten, dass heute auf uns etwas lächerlich wirkt. Lassalle der Machtmensch, der Begründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der Mann, der 1863/64 die Geheimgespräche/6/ mit Bismarck führte! Man stelle sich einmal vor, Helmut Kohl hätte 1990 geheime Unterredungen mit Gregor Gysi gehabt.
Blättern wir weiter im Gästebuch. Ein süddeutscher Lehrer konstatiert sehr richtig: Die Unterschicht ist unterrepräsentiert. Und ein Ossi (gibt's das noch?) spöttelt: Wie eine DDR-Ausstellung unter umgekehrtem Vorzeichen. Zweifellos hätten die Macher dem Proletariat einen Raum widmen können, voller Lumpen, Holzlöffel und angestoßener Emailtöpfe, mit einem stinkenden Strohsack, richtiges Berliner Elend, wie es Karl Gutzkow in den »Rittern vom Geiste« sehr anschaulich beschreibt. Die Speicher des DHM dürften noch aus seiner Zeit als »Museum für Deutsche Geschichte« einiges hergeben. Aber seien wir mal ehrlich: Die Klunker der Reichen waren immer interessanter als der Plunder der Armen! Jede Krähe kann das bestätigen.
Übrigens kommt auch der Militarismus der Zeit viel zu kurz. Immerhin gewann Preußen im fraglichen Zeitraum drei richtige Kriege, gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich und feierte sich selbst. Wenigstens eine Sammlung Pickelhauben hätte man erwartet.
So gehet denn hin und bewundert seltene und staunenswerte Schaustücke und vergesst die Taschenlampe nicht. Die Expositionen im Zeughaus glänzten seit Menschengedenken durch Unausgewogenheit. Das soll uns den Genuss nicht verderben, denn in einem langen Leben bekommt man allerhand zu sehen. Und wir dürfen gespannt sein, welche Sicht auf die Geschichte uns die nächste deutsche Wende beschert.
/1/ Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 9, Sp. 796
/2/ Von Sombart, der als Marxist begann und als Vordenker der Konservativen Revolution endete (vgl. DBE, Bd.9, S. 367), stammt das ideale längere Einführungszitat, das alle Parteien glücklich macht.
/3/ Vgl. Heinrich Wolfgang Seidel, Erinnerungen an Heinrich Seidel, Cotta 1912, Seite 19 (Anm.)
/4/ Aus der Autografensammlung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (Katalog S. 473). Dieses Autograf wurde stark vergrößert an zentraler Stelle der Ausstellung gleichsam als Motto platziert, obwohl es mehr dem Zweiten Kaiserreich angehört.
/5/ Ein Hinweis für Chinesen: Nicht alle Deutschen haben Karl Marx vergessen, sondern nur die Sozialdemokraten.
/6/ Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Stuttgart und Berlin 1901, S. 175 ff.
Gründerzeit 1848 - 1871 (Katalog des DHM)
Autorenkollektiv
Sandstein Verlag