Das Erinnern formt den Menschen. Das Wissen darum, wo man herkommt, bestimmt darüber, wo man hingeht. Das gilt für den Einzelnen, stärker noch gilt es für die Vielen, die Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist. In unserem schwierigen Fall ist es das Deutschland, dessen Kriegsgeneration gerade abtritt. Eine Generation die, wie kaum eine andere, den Generationen nach ihr den historischen Rucksack mit Problemen vollgepackt und zugleich eine Meisterschaft in der selektiven Wahrnehmung entwickelt hat. Immer so, wie es die politische Opportunität gerade anempfahl.
Längst haben die vereinten Deutschen zähneknirschend gelernt, dass sie die wesentliche Verantwortung für den Mord an den europäischen Juden tragen müssen. Auch Sinti und Roma wurden, in geringerem Maße, als Opfer deutschen Rassenwahns begriffen. Das Verbrechen an den Zwangsarbeitern, deren Arbeit nicht nur den Krieg in Gang hielt, sondern auch eine solide Grundlage für die Nachkriegswirtschaft lieferte, wurde zwischenzeitlich zur Kenntnis genommen. Sogar der in den Lagern geschundenen Schwulen mag man sich zaghaft erinnern. Ins völlige Vergessen gefallen sind die sowjetischen Kriegsgefangen in Deutschland, jene Menschen, die von den Deutschen schlechter als das Vieh behandelt wurden.
Mit dem Buch »Ich werde es nie vergessen«, erschienen bei Ch. Links und herausgegeben vom Verein »Kontakte«, in dem sechzig Briefe sowjetischer Kriegsgefangener veröffentlicht sind, ist ein wesentlicher Anfang getan, dem mangelhaften deutschen Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Etwa 5,7 Millionen Rotarmisten waren in deutscher Hand, eine Million von ihnen wurden als »Hilfswillige« zur deutschen Wehrmacht entlassen, weitere fünfhunderttausend konnten fliehen oder wurden befreit. Mehr als drei Millionen kamen um, wie man sagt, ermordet durch Hunger, Willkür und Seuchen im Ergebnis der Haftbedingungen. Da es Kreise gibt, in denen gerne aufgerechnet wird: Während die Todesrate englischer oder amerikanischer Kriegsgefangener bei 3,5 Prozent lag, betrug sei bei den sowjetischen 57,5 Prozent. Die Rechnung ist bis heute nicht beglichen.
Warum die sowjetischen Kriegsgefangenen bisher keiner Erinnerung gewürdigt wurden, hat geteilte Ursachen. In der Westrepublik wurden sie gerne gegen die deutschen Kriegsgefangen in der Sowjetunion aufgerechnet. Der kleine Unterschied, dass nicht die Sowjets Deutschland, sehr wohl aber die Deutschen die Sowjetunion überfallen hatten, wurde in den Akten des Kalten Krieges abgelegt. In denen stand geschrieben, dass die Russen auf alle Fälle böse waren, was scherten da die paar Millionen Ermordete. Im Osten konnten die sowjetischen Kriegsgefangen nicht anerkannt werden, weil der große Bruder sie nicht anerkannte: In der perversen Logik Stalins waren die Kriegsgefangenen »Verräter« und solche sollten schnell vergessen werden, um den Ruhm der Roten Armee nicht zu beflecken.
Wie kann man Kinder und Enkel entschädigen, deren Gro?väter ermordet wurden? Wie kann man den wenigen Überlebenden ihre entmenschte Jugend ersetzen? Das alles kann man nicht. Aber man kann Schuld anerkennen, als einen ersten Schritt zur historischen Wahrheit. Das bezeugt den notwendigen Respekt vor den Opfern und hilft der kollektiven Selbsterkenntnis. Der Verein »Kontakte«, dem wir das vorliegende Buch verdanken, tut mehr als das: Er macht überlebende Gefangene ausfindig und sendet ihnen, mit einem respektvollen und warmherzigen Brief, dreihundert Euro. Das mag gering erscheinen und angesichts des Erlittenen ist es das auch. Aber während überlebende Zwangsarbeiter von der deutschen Industrie und der Regierung wie auch immer »entschädigt« wurden, werden die Kriegsgefangenen offiziell nicht als Opfer begriffen. Das Verdienst des Vereins liegt also darin, das offizielle Schweigen zu durchbrechen und mit seinen kargen, privaten Mitteln eine schreiende Ungerechtigkeit zu mildern.
Die sechzig vorliegenden Briefe sind Antworten auf den Brief des Vereins und Zeugnisse einer Dankbarkeit, die beschämend ist: «Ihr Geld habe ich nicht vergeudet« schreibt einer aus Brest, ein anderer aus Saporoshje hat den Brief des Vereins »mit feuchten Augen gelesen«. Der aus dem Gebiet Cherson hat den Brief seinen Enkeln und Urenkeln gezeigt, er wünscht den Leuten von »Kontakte« einen klaren Himmel und schließt mit »einer tiefen Verbeugung«. Es sind anrührende Briefe von einfacher Menschlichkeit, die den Frieden beschwören und den Deutschen nichts Böses wollen. Kein Hass spricht aus den Zeilen, keine Vorwürfe an die Nachgeborenen der grausamen Feinde. Die Schilderung der Leiden erscheint seltsam leidenschaftslos und presst einem vielleicht gerade deshalb das Wasser in die Augen.
Trockenen Auges mochte das Oberkommando der Wehrmacht sich die Ausplünderung der besetzten sowjetischen Gebiete vornehmen, in deren Folge »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern« würden. Assistiert vom Generalquartiermeister des Heeres, der festlegte: »Nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern«, zeigte der deutsche Unmensch sein uniformiertes Gesicht und besudelte sich und die Nation mit Feldmarschall Keitels Haltung zum Mordbefehl gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen: »Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung! Deshalb billige ich die Maßnahmen und decke sie.«
Und doch kommen sie immer wieder vor, die guten Deutschen. In den Briefen der Kriegsgefangenen nehmen sie Ehrenplätze ein, die nur schwer zu ertragen sind: »Sie kam schnell auf mich zu, steckte in meine Tasche ein gutes Stück Brot und sagte zu mir auf Deutsch: Mein Sohn ist in Eurer Gefangenschaft. Möge er zurückkommen.«
Während nur weniger als die Hälfte der sowjetischen Kriegsgefangenen dem deutschen Vernichtungsprogramm entronnen sind, gelang es der weitgehend zerstörten und ausgeplünderten Sowjetunion, deren eigene Bevölkerung noch lange nach dem Krieg hungerte, etwa 70 Prozent der deutschen Kriegsgefangenen wieder in ihre Heimat zu schicken. Auch hier tritt der Unterschied zwischen dem von den Nazis propagierten Untermenschen und dem Unmenschen in deutscher Uniform klar zu Tage.
Der Verein »Kontakte« sammelt seine Spenden auf dem Konto der Berliner Volksbank 3065599006, BLZ 100 900 00