Empörung füllt die Herzen unserer Landsleute.
Steht auf! Steht auf! Steht auf!
Chinesische Nationalhymne

Mit dem ersten Satz bereits stellt das neue Buch, "Empörung", von Philip Roth den Leser in ein historisches Verhältnis. Es erinnert ihn an den Koreakrieg. Jenen fernen Krieg in den Fünfziger Jahren, in dem die Welt der Blöcke, der des Westens und der der Ostens, erstmalig mit voller Wucht aufeinander geprallt waren. Weit über drei Millionen Menschen starben. Zum ersten Mal setzten die USA Napalm ein. Geschrieben wurde Roths neueste Arbeit in Zeiten des andauernden Krieges im Irak und des Afghanistan-Krieges, vor dessen Ausweitung wir stehen. Dass ein Roman, der im Krieg enden wird, in Zeiten der Kriege erscheint, wird kein Zufall sein. Doch kaum beginnt "Empörung" mit einer knappen Information über die Koreafront, verlässt Roth die Weltbühne und taucht tief in die amerikanische Provinz jener Zeit ein. Marc Messner, dem Sohn eines koscheren Metzgers, werden wir ein Stück seines Weges folgen, einem jungen Mann, der so einfach modelliert scheint und doch die ganze Kompliziertheit seines Landes widerspiegelt.

Es ist eine fast karge Sprache, mit der uns der Autor in das Leben von Marc Messner sendet: Kleine Stadt unweit von New York, ordentliche Verhältnisse, ins Jüdische ist man hineingeboren, die Kundschaft will das Fleisch koscher, Vater und Mutter sind fleißige Amerikaner, der Sohn ist nicht minder strebsam. Als Marc sein Studium in seiner Heimatstadt aufnimmt, begegnet er neugierig anderen Einwanderern und ihrem italienischen Akzent. Für ihn ist das nicht weniger faszinierend ". . . als der zweisemestrige Einführungskurs in die Geschichte der westlichen Zivilisation." Man dürfte sich zu Hause fühlen im wohl sortierten Milieu, wäre da nicht eine immer währende Bedrückung, nicht ausgesprochen und doch auf den Sätzen lastend. Als Marcs Vater, gepeinigt von der Sorge sein Sohn könne Schaden nehmen in einer Welt, die Krieg und Kriminalität kennt, zunehmend phobischer wird, flieht der Sohn aus dessen krankhafter Fürsorge in eine andere Stadt.

Auch dass es eine bigotte, von christlicher Begrenztheit geprägte Universität in Ohio sein muss, die Marcs fragiler Fluchtort sein wird, kann, parallel zur evangelikalen Erweckung der USA, kaum unbeabsichtigt sein. Nur leise meldet sich der ferne Krieg in Asien: Beste Zensuren, auch im Nebenfach "Militärwissenschaften", könnten das Überleben des Studenten sichern. Die Koreafront braucht Futter und wer, dank Bestnoten, einen Offiziersrang erreicht, der wird nicht sofort verfüttert. Mitten in diese Strebsamkeit stößt die ablenkende Sexualität: Eine junge Frau, die wirklich erste, meldet sich im Leben Marcs an, gewaltig. Auch weil sie auf keinen Fall dem kleinbürgerlichen Ideal seiner Herkunft entspricht: Als Kind geschiedener Eltern und vom Selbstmord bedroht, wird die unendlich schöne, unglaublich kühne Olivia den jungen Mann verstören und seiner Bahn einen ungeplanten Drall geben.

Doch noch vor dem Olivia-Ereignis prallt Marc an die Mauer engstirniger christlicher Selbstzufriedenheit seiner Universität: In der Auseinandersetzung mit seinem Dekan um den Pflichtbesuch des universitären Gottesdienstes bekennt er, mit einer furiosen Passage aus Betrand Russels Vortrag "Warum ich kein Christ bin", seinen Atheismus. Intensiver noch gelingt dem Autor die subtile Fundierung des Roman-Titels: "Empörung" ist das Wort aus einem Lied, das dem Studenten während der Begegnung mit der Autorität im Kopfe tönt, "Empörung" als ein Fragment aus der chinesischen Nationalhymne, innerlich gesummt, das Lied des chinesischen Feindes, seiner Truppen in Korea, der gestern noch ein Alliierter war, als es gegen die Japaner und Hitler ging. Zu seiner Beruhigung memoriert Marc das Lied, das er in der Grundschule gelernt hatte, als noch der zweite Weltkrieg tobte. Zufall? Oder doch eher Notwendigkeit einer literarischen Konstruktion, die zumindest auf die jähen Wendungen der Geschichte weisen will. Oder mehr noch: Auf die Fragwürdigkeit des Freund-Feind-Begriffs.

Lange vor Olivia, vor dem Ausbruch des atheistischen Bekenntnisses, teilt Roth uns beiläufig mit, dass der Ich-Erzähler vom Beginn des Erzählens an tot ist. Der Tod, so erfährt der Leser, ist für Marc nichts anderes als ". . . pure Erinnerung, die äonenlang über sich selbst nachdenkt." Diesen Erinnerungen folgen wir in "Empörung". Und auf dem Weg zu ihrem Ende treffen wir auch auf einen studentischen Aufstand, der als der große weiße Höschenklau des College Winesburg in die Analen der Universität eingehen wird. Von einer harmlosen Schneeballschlacht ausgehend entwickelt sich aus dem Kampf der männlichen Studenten einer um das Geschlecht: Sie stürmen die Wohnheime der Studentinnen und reißen, während eines gewalttätigen Streifzugs, alle weissen Höschen aus den Schränken und Schubläden, um sie als Trophäen zu rauben. Die unterdrückte Sexualität der Fünfziger entlädt sich in einem Ausbruch gegen die Konvention, der einer Massenejakulation gleich kommt.

"Sie können mich mal" schleudert Marc Messner seinem Dekan entgegen, weil er "Nicht wie ein Kind an irgendeinen blöden Gott glauben" konnte und dieses Bekennen gegen die Bekenntnisse wird ihn vorzeitig an die Front bringen, deren mörderische Einzelheit der Autor uns nicht ersparen will. "Empörung" ist ein Entwicklungsroman, der jäh von der Geschichte beendet wird. Es ist eines dieser Bücher, die wir nur mit schwerem Herzen ins Regal stellen können. Denn es birgt den Aufstand und den Tod, die Freiheit der Gedanken und die Diktatur des Glaubens, den immer währenden Kampf darum, ein menschliches Wesen sein zu können. Und es ist die Empörung gegen die Autorität, gegen die ideologischen Schemata einer Geschichtsschreibung, deren einseitige Dummheit bis in die Jetztzeit ragt.