Auf der Schaufensterscheibe des kleinen Ladens meiner Großeltern stand im März 1920 geschrieben: "Gute Leute - Nicht plündern". In dem Arbeiterviertel der rheinischen Großstadt war das, in der Zeit des rechten Kapp-Putsches gegen die Regierung der Weimarer Republik, eine Art Versicherung. Denn die "Rote Ruhr Armee", aus Anarchisten und Kommunisten formiert, wollte der in den Putsch verwickelten Reichswehr ans Leder: Die hatte ihre Geschütze am Hauptbahnhof und schoss in die nahegelegenen Arbeiterviertel, aus denen wurde zurückgeschossen. Und Neutrale gab es eigentlich nicht. Hunger trieb zum Plündern. Aber die Großeltern, kleine Leute wie die Nachbarn, "schrieben an", gaben Kredit. Der kam zwar nicht immer zurück, aber in Zeiten der Gewalt zahlte er sich aus. Der Laden blieb verschont. Die "Rote Ruhr Armee" wurde, nach ihrer Niederlage, von der Reichswehr nicht verschont: Erschiessungen und Folterungen waren gewiss, wenn ihre Mitglieder gefangen wurden.

Von der Gewalt handelt ein Band des Dietz-Verlags, der die Beiträge einer Debatte der Rosa-Luxemburg Stiftung, eine Auswertung der Aktionen rund um den G-8-Gipfel in Heiligendamm, zusammenfasst. Mit den gewaltsamen Aktionen dieser Tage in Griechenland erhalten die von Rainer Rilling herausgegebenen Beiträge eine beklemmende Aktualität. Denn die Läden in Athen und anderen Orten in Griechenland werden nicht verschont und die spontanen Ausbrüche von Gewalt werden ihr Ziel, die Veränderung der sozialen Situation der Kinder der Mittelschicht, kaum erreichen. Selbst wenn sie die jetzige konservative Regierung stürzen sollten: Die sozialdemokratische Opposition steht schon bereit, um eine Regierung zu bilden, "die den Bürger schützen kann" wie ihr Chef Georgios Papandreou seine Alternative verkündete. Welch eine Perspektive!

Wohin schreiten die Ausschreitungen, fragt der Debatten-Band der Luxemburg Stiftung und nimmt, stellvertretend für viele Gewaltvorkommnisse am Rand oder im Zentrum politischer Aktionen, die Steinwürfe aus der Rostocker Demonstration zum G-8-Gipfel auf die Polizei als Anlass zur Untersuchung. Drei Linien schälen sich in den Aufsätzen der Debattierenden heraus. Zum einen sind dort die Taktiker, die danach fragen welchen Ertrag denn die Gewalt hat. "Können Ausschreitungen unser Anliegen befördern?", fragt Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der LINKEN und antwortet mit Nein. Weil die Würfe die falschen Medien-Bilder lieferten und weil Gewalt auf alle Fälle amoralisch sei. Die zweite, die moralische Antwort sollte im doppelten Sinne aufgehoben bleiben: In der langen Geschichte von gewaltsamen Auseinandersetzungen und auch in einem späteren Kapitelchen der Rezension. Die erste Antwort ist, Medienkenntnisse vorausgesetzt, erheiternd: Zu den meisten linken Aktionen gibt es gar keine Bilder oder die falschen oder einen zynischen Kommentar. Das hat etwas mit den Gewaltverhältnissen in Redaktionen zu tun. Die Karriere des Redakteurs, der die "richtigen" Bilder ins Medium heben will, überlebt nicht.

Eine zweite Linie findet sich bei Christoph Kleine von "Avanti", einer eher den Autonomen zuneigenden Gruppierung, der in jenen Maßen Formen von Gewalt befürwortet, die "Ohnmacht überwindet" und "kollektiven Widerstand möglich macht". Stärker noch wird diese Position in einem anonymen Papier von Mitgliedern des Schwarzen Blocks artikuliert, deren frommer Wunsch es ist, ". . . große Zusammenkünfte der Herrschenden . . . letztendlich zu verunmöglichen." Immerhin fällt ihnen ein, dass es nicht ihr Ziel sein kann "Polizeibeamte (schwerer) zu verletzen" und "die Flaschen am Vorabend auszutrinken und nicht erst auf der Demo". Zuviel Spaß an der Wochenendrevolution soll dann doch nicht sein. Eine Überlegung, die Polizei als potentiellen politischen Partner zu begreifen, wenn man die Ohnmacht überwinden und die Staatsgewalt von ihrer Unterdrückungsfunktion befreien will, findet nicht statt. Ein kluger Kommentar zu solcher Einfalt kommt von Christine Buchholz, Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN: "Steinwürfe drücken Ohnmacht aus", schreibt sie und will sich trotzdem nicht von den Steinwerfern distanzieren, weil in dieser Distanz letztlich eine Servilität gegenüber denen liegt, die gar keine linke Aktion wollen, ob mit oder ohne Stein.

In die Frage nach der richtigen Taktik zur Veränderung von Verhältnissen lässt sich auch der Beitrag von Peter Wahl, Gründer von ATTAC Deutschland einordnen, der einer Verlagerung der Herrschaftsmethoden, von der gewaltsamen Repression zur Manipulation der Köpfe, sieht und in dieser Phase der Auseinandersetzung Militanz als schädlich begreift, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung nicht aufrüttelt sondern ängstigt. Wahl erinnert zu Recht daran, dass die mörderischen Aktivitäten der RAF der deutschen Linken geschadet haben. Diese Erkenntnis hindert ihn nicht, die "Dehumanisierung und Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse" in Zeiten des Neoliberalismus zu sehen und dort die Ursachen für wachsende Wut und Aggressivität zu verorten. Die Bilder, die uns zur Zeit aus Athen erreichen, unterstreichen diese Einsicht deutlich.

Michael Brie, ein wichtiger Wissenschaftler der Luxemburg-Stiftung, legt einen brillant formulierten Aufsatz vor, der sich im Kern mit der moralischen Seite der Gewalt beschäftigt. Der Mensch, der Gewalt erleidet und auch der, der sie anwendet, schreibt Brie ". . . wird zum Tier." Vielschichtig und belesen belegt er den gezielten Rechtsbruch gegen das Handeln eines Staates, dessen Repräsentanten "durch demokratische Wahlen eingesetzt wurden", mit dem Bannfluch der Todeswirkung: Vom amerikanischen Bürgerkrieg bis zur russischen Revolution sieht Brie ein Heer von Gewaltopfern und die Gewalt als ein "kurzfristiges Mittel in höchster Not". Und: "Wer unter den Bedingungen gesicherter politischer Freiheiten zur Gewalt greift, droht mit Bürgerkrieg und Diktatur". - Es ist alles so lange her: Als sich im März 1871 die Pariser Kommune 72 Tage lang gewaltsam der Stadt Paris bemächtigte, gab es vorher in ganz Frankreich Wahlen zur Nationalversammlung, die man in der historischen Situation durchaus als demokratisch bezeichnen durfte. Leider hatten die Konservativen gesiegt. Das fanden nicht wenige Pariser falsch und schritten zu Ausschreitungen. Und obwohl die Kommune auch noch den Fehler begangen hatte den Kampf zu verlieren, gilt sie in der Linken noch heute als ein früher Lichtblick der Emanzipation.

So werden im verdienstvollen Sammelband "Eine Frage der Gewalt" zwar politische, taktische und moralische Fragen hin- und her gewendet doch das Soziale bleibt weitgehend ausgeblendet. Wo kommen sie her, die Fenster einwerfen, Polizisten attackieren oder Autos in Brand setzen? Welchen Platz haben sie in der Gesellschaft? Warum folgten sie, schon vor der Krise, nicht dem gängigen Leitbild einer konsumierenden Gesellschaft, das den wirtschaftlichen Erfolg als Mittelpunkt seiner Moral hat? Nicht zuletzt in diesem Wissen läge auch der Zugang zu diesen zumeist jungen Menschen, die ein Gewinn für die Linke (klein geschrieben) sein könnten, wenn sie sich denn auf den langen Marsch gegen die Institutionen einlassen würden.