Woher kommen wir? Aus welchem gesellschaftlichen Stoff sind wir gemacht? Und warum leben wir dann so wie wir leben, gelebt haben? Diesen Grundfragen an sich, diesen Grundfragen an die Gesellschaft aus der sie stammt, geht die Autorin Christa Wolf in ihrem Buch "Stadt der Engel" mit jener Strenge nach, die ihre Arbeiten immer wieder auch als Selbstprüfung erscheinen lassen. Als Prüfung des Ich des Lesers, wie auch als Analyse des Ichs der Schriftstellerin. Wer sein Leben im stillen Teich der Konformität verbracht hat, wer nie die Frage nach einem anderen Leben, die Frage nach der Besserung der Lage aller gestellt hat, der wird dieses Buch nicht verstehen. Und man darf jetzt schon prophezeien, dass eine Mehrheit der Kritiker dazugehören wird.
Denn die Majorität, wie sie sich seit der deutschen Einheit formiert hat, will von der Wolf immer nur das Eine: Geständnisse über moralische Verfehlungen, Bekenntnisse über ihre Tätigkeit für die DDR-Staatssicherheit, Unterwerfung unter ein Urteil das, wie viel man auch bekennen mag, immer nur heißen wird: Unmoralisch. Am Buch der Wolf - das auf einer Ebene in der Stadt der Engel, in Los Angeles, handelt und von dieser Ebene aus viele Täler und Gipfel der deutschen Geschichte aufsucht - wird erneut die deutsche Spaltung und die deutsche Einheit verhandelt werden. Ohne Waffengleichheit versteht sich: Denn die Akten aus dem Westen bleiben verschlossen. Über die westdeutschen informellen Mitarbeiter, die bei der mehr als einer Million "Regelanfragen" für die Berufsverbote der 70er und 80er Jahre eine Rolle spielten, werden wir zu unseren Lebzeiten kaum etwas erfahren.
In jener Stadt, in der Christa Wolf Anfang der Neunziger mehrere Monate lebte, trifft sie auf die Spuren von Feuchtwanger, Brecht, Eisler, Mann, auf jenes deutsche intellektuelle Exil, das damals auch in Los Angeles lebte, auf der Flucht vor den Nazis und das für einen anderen deutschen Staat plädierte, einen Staat, den manche von ihnen später in der DDR erkannt hatten. Ein Staat, der nicht einfach anders und besser sein sollte als die mörderische Diktatur der Nazis, sondern ein Staat, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". So zumindest hatte das kommunistische Manifest es formuliert, so sollte das neue Land sein. Hier liegen die Wurzeln der Christa Wolf, aus dieser politischen und literarischen Landschaft stammt sie, aus diesem Denken bezog und bezieht sie ihre Moral.
Eine Autorin erschafft eine zweite Autorin, die ihr ziemlich ähnlich sieht und lässt sie dort leben und nachdenken, wo die eigentliche Autorin auch gelebt und nachgedacht hat: Dieser Kunstgriff in "Stadt der Engel" mag dem Leser manchmal eine Bürde sein, Christa Wolf kann damit die Last des Konkreten abwerfen, kann neben sich treten und sich kritisch beobachten. Damit nicht genug findet oder erfindet sie der zweiten Autorin einen ständigen Gesprächspartner, einen Sohn von Emigranten, der ihre Selbstzweifel ebenso ernst wie spöttisch aufnimmt und in Verhältnisse setzt. Und sie gibt der Autorin eine Spurensuche auf, die in Briefen einer verstorbenen Kommunistin zu finden ist, einer, deren Hoffnungen aus der Zeit des Widerstandes gegen die Nazis stammen und mit der Entwicklung der DDR zunehmend zerrinnen. Wem das verzwickt erscheint, der sollte sich den Prozess ansehen, den Christa Wolf eine Revolution nennt: Die Erhebung der DDR-Bürger, um Meinungs- und Reisefreiheit zu erzielen, die sie auch erreicht haben, um festzustellen, dass ihre Meinung wenig wert ist und nicht wenigen das Geld zur Reise fehlt.
Mit Wehmut erinnert sich die Wolf an die Tage der Volkserhebung, an denen sie selbst, auf dem Berliner Alexanderplatz sprechend, beteiligt war und "die Staatsmacht es als schlimmste Drohung empfand, als die Massen auf den Strassen die Losung riefen: Wir bleiben hier!" Sie hat auch nicht jene Offiziere der DDR-Armee vergessen, die ihr erzählten, wie sie in dieser Zeit die Munition der Truppe einsammelten, denn: "Eine Volksarmee schießt doch nicht auf das Volk". Und, an einer anderen Stelle des Textes, den die Schriftstellerin mit gutem Grund eine Gewebe nennt, weiß sie noch von der anderen Erhebung zu erzählen, der am 17. Juni 1953, als ihr, der jungen Kommunistin, in der Leipziger Innenstadt von einer Menge abverlangt wurde ihr Parteiabzeichen abzumachen und sie sagte: "Nur über meine Leiche". Unbelehrbar wird der eine Leser sagen, das hätte sie doch weglassen können der andere. Aber die Wolf prüft ihre Erinnerung unerbittlich und will sich vergewissern wer sie ist und warum.
Warum einer ist, wer will denn solche Fragen heute stellen oder gar beantworten? Diese Suche nach dem Sinn des Lebens, die Christa Wolf in ihren Text webt, ist, angesichts einer bunten, spektakulären Bilderwelt längst beantwortet: Zuschauen und im Heute leben, das Gestern vergessen und das Morgen auf jene lange Bank schieben, die keine Zinsen zahlt, nur solche fordert. In Los Angeles erreicht die Wolf das Gestern in Form von Zeitungsartikeln, von Faxen, in denen die Frau, die gestern noch als Dissidentin und große Schriftstellerin galt, heute zur Parteidichterin und Denunziantin verzerrte. Sie soll Zinsen zahlen für den Untergang ihres Landes: Warum sie denn nicht die Länder gewechselt habe, wird sie drohend gefragt. Und noch einmal bekennen sich die Sieger zur unerbittlichen Logik der zwei Seiten, wovon man eine wählen sollte, eine Wahl, die sie verweigert hatte, nach einem Ausweg suchend, einem Weg dazwischen.
Ein Jahrhundertbuch schenkt Christa Wolf ihren Lesern. Eines, dass ein ganzes Jahrhundert umspannt und das die Fragen der Jahrhunderte aufwirft. Sie hat Fragen gestellt, keine Antworten gegeben. Dem Leser und seiner Haltung werden die Antworten abverlangt. Sie selbst, die Autorin von einer Autorin geschaffen, zweifelt so sehr an sich, dass sie eines Engels bedarf: "Übrigens habe ich nicht vor, mich für das Auftreten des Engels Angelina zu rechtfertigen oder irgendwelche Erklärungen abzugeben." schreibt sie. Der Engel ist schwarz und weiblich. So könnte er auch ein Teil der Antwort der Christa Wolf sein. Die aber formuliert: "Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht." Und doch hat sie erneut einen Stein in das Wasser unseres Denkens geworfen und er wird Kreise ziehen, solche, die Wellen machen können.