Über Goethe etwas zu sagen oder zu schreiben, ohne sich des Plagiats schuldig zu machen, halte ich für ausgeschlossen.
Friedrich Spielhagen (1910)
Im Jahr 1823 passiert nichts Weltbewegendes in Deutschland. Der Chemiker Döbereiner erfindet seine Zündmaschine/1/ und in Köln gibts den ersten Rosenmontagszug. Beethoven komponiert die 9. Symphonie allerdings in Wien. Und in Marienbad, das auch zur k.u.k.-Monarchie gehört, verliebt sich Johann Wolfgang von Goethe unsterblich in Ulrike von Levetzow. Sie ist neunzehn und er wird vierundsiebzig. Hofmedicus Rehbein attestiert ihm Zeugungsfähigkeit und sein Großherzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach begibt sich zu Ulrikes Mutter Amalie von Levetzow (der Vater ist gegen Napoleon auf dem Schlachtfeld geblieben) und hält im Namen des Freundes um die Hand der Tochter an. Der Großherzog bietet Ulrike ein Witwen-Jahrgeld von 10.000 Talern!/2/ Sie wird nach reiflicher Überlegung ablehnen und Goethes Sohn August dem Alten eine unerfreuliche Szene machen. Ulrike von Levetzow bleibt ein sehr langes, bald hundertjähriges Leben unvermählt. Diese Klatschgeschichte aus dem Biedermeier kann man kurz und knapp in Gero von Wilperts akribischem Goethe-Lexikon nachschlagen oder man hat genügend Muße und liest die zahlreichen Abhandlungen zum Thema./3/ Und weil es Goethe war, der letztmals liebte, wurde auch schon der eine oder andere Roman daraus gemacht. Toni Schwabe, Hans Franck, Joachim Fernau, Klaus Tudyka, Friedemann Bedürftig und Sigrid Damm haben Bücher geschrieben, die erzählen von Goethes letzter Liebe: Ulrike./4/
Im Monat März des Jahres 2008 ist der Roman EIN LIEBENDER MANN erschienen, ein geriatrisches Meisterwerk, geflossen aus der Feder Martin Walsers, das die erotischen Empfindungen eines alten Mannes zelebriert, der Goethe heißt und Walser ist. Dazu zeichnete Tochter Alissa Walser einen Umschlag in psychodelischer Manier, der sogar die blaue Nase Goethes authentisch wiedergibt. Denn Wilhelm von Humboldt sollte seiner Frau am Ende jenes tollen Jahres 1823 berichten, dass die Exzellenz unheimlich viel Bier soff aus Liebeskummer./5/ Trotzdem gilt: »Vorsicht bei jeder Stellungnahme zur Farbe BLAU.« (Walser, S. 217)
Schon einmal hatte sich Martin Walser mit überlegenem Geist unserem Klassiker genähert, als er ein Theaterstück schrieb des Titels »In Goethes Hand«, das passender geheißen hätte »Goethe in Walsers Hand«. Er führte darin vor fünfundzwanzig Jahren den Nachweis, dass der Minister Goethe anno dunnemals die weimarischen Dienstboten strenger behandelt hat als heuer der Dichter Walser dienstleistende ethnische Minderheiten. Eine bahnbrechende soziologische Erkenntnis.
In seinem neusten Opus frönt Martin Walser zu wiederholtem Mal seinem Lieblingsthema, dem Eros des Alters, diesmal verpackt als Parodie. Dieser Aspekt ist übrigens den durchweg wohlwollenden Kritikern ganz entgangen. Allerdings hatten einige von ihnen wohl nur den Klappentext vorliegen. Martin Walser persifliert auf göttliche Weise Thomas Manns Roman »Lotte in Weimar«. »Greisenavantgardismus« nannte Mann solche Exerzitien./6/ Wie gesagt existieren schon reichlich Romane, in denen uns der alte Goethe erklärt wird, wenn auch in ganz philiströser und altertümlicher Sprache. Der bei weitem berühmteste ist »Lotte in Weimar«, ein Werk Thomas Manns, das unter den Manniacs als besonders köstlich gilt, weil hier seine Kunst der dezenten Ironie ihren Höhepunkt erreicht. Uns bleibt vorbehalten, dieses angestaubte Produkt der Mannschen Muse zu der postmodernen Parodie Walsers in Beziehung zu setzen. Denn wie heißt es in der Werbung? »Wer glücklich sein will, muss vergleichen.«
Dabei starten wir die Synkrise der Einfachheit halber mit den ersten Sätzen. Das biedere Vorbild beginnt:
Der Kellner des Gasthofes »Zum Elephanten« in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis. Nicht, daß etwas Unnatürliches an dem Vorfall gewesen wäre; und doch kann man sagen, daß Mager eine Weile zu träumen glaubte.
(Th. Mann, S. 9)/7/
Daran ist ulkig nur, dass ein Kellner auch »Mager« heißen kann, wenn er beleibt ist.
Man vergleiche dagegen das witzige Remake:
Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blick schon auf ihn gerichtet. Das fand statt am Kreuzbrunnen, nachmittags um fünf, am 11. Juli 1823 in Marienbad.
(Walser, S. 9)
Die sublime Syntax kontrastiert drollig mit der Präzision des Datums.
Die Sprachkunst Martin Walsers erreicht bald ihren ersten Gipfel:
Sogar zweimal, sagte Ulrike, Zaire und Mahomet.
Keine ganz tollen Stücke, sagte Goethe.
Aber dafür ist Scott prima, platzte Bertha herein.
(Walser, S. 16)
Prima! Einst platzte man in eine Versammlung hinein, aber mit einem Witz heraus. Martin Walser übersetzt den unverständlichen Duktus Goethes für heutige Leser in den schnoddrigen Jargon seiner sechzig Jahre zurückliegenden Jugend. In Goethes Sprachschatz bedeutete toll soviel wie »verrückt« oder »wild« und die »Prima« war für damalige Teenager nichts als die oberste Klasse des Gymnasiums.
Übrigens fügt Martin Walser seinem Text viele von ihm kreierte Manuskripte und Briefe Goethes ein, die beweisen, dass der Alte in jenem Jahr seine geheimrätliche Schreibweise gegen den Staccatostil eintauschte. Die Goethe-Philologen wirds freuen.
Man kann kaum zurückhaltender loben als der Klappentext:
Die Glaubwürdigkeit, die Wucht der Empfindungen und ihres Ausdrucks das alles zeugt von einer Kraft und (Sprach-) Leidenschaft ohne Beispiel.
Aus dem mannirierten Dialog der beiden Charlotten:
»Da hast du«, sagte sie, »deinen Stern entblößt. Der Effect war nicht übel.«
»Ach Kind«, erwiderte die Mutter, »was du meine Stern nennst, und was mehr ein Kreuz ist, wobei es ja immerhin ein Orden bleiben mag, - der kommt zum Vorschein ohne mein Zutun, ich kanns nicht hindern und ihn nicht verbergen.«
»Ein wenig länger, liebe Mama, wenn auch nicht für die ganze Dauer dieses extravaganten Aufenthaltes, hätte er allenfalls verhüllt bleiben können, wenn wir doch lieber bei Tante Amalie logiert hätten anstatt im öffentlichen Gasthofe.«
»Du weiß sehr gut, Lottchen, daß das nicht anging.«
(Th. Mann, S. 22 f.)
Das ist feinstes umstandskrämerisches Biedermeier.
Man vergleiche die flotte Dialogführung der walserigen Parodie:
Ach ja, sagte er. Ich wollte dann doch nicht länger stören.
Wen, sagte sie.
Sie, sagte er.
Ach ja? Sagte sie fragend.
Ja, sagte er.
Stören, sagte sie. Exzellenz, stören, das haben sie doch gar nicht gelernt.
(Walser, S. 87)
Ist es nicht toll, wie in diesem Dialog die strukturelle Integrität des Biedermeiers plattgewalsert wird?
Wenden wir uns den existentiellen Situationen zu.
Martin Walser beschreibt filmreif, wie Ulrike Goethe den ersten Kuss gibt:
Sie griff nach seinen Händen. Sie hob seine Hände. Dass ihn das näher zu ihr hinbrachte, war vielleicht nicht beabsichtigt. Wenn er sie jetzt küsste, imitierte er den, konkurrierte er. Wurde vergleichbar. Mit dem. Er zog sie ein wenig, wenn sie wollte, musste sie das gar nicht gespürt haben, aber sie zog ihn auch wieder ein bisschen, dann waren sie so nahe bei einander, dass sie, ohne seine Hände loszulassen, ihn mit ihrem Mund erreichte. Ihre Münder bleiben einen Augenblick an einander wie zwei Wesen, die noch nicht wissen, in welcher Sprache sie mit einander sprechen sollen.
Sie hatte noch seine Hände in ihren Händen, als sie sagte: Ach, Exzellenz.
(Walser, S. 90)
Thomas Mann schildert umständlich Charlottes letztes Busserl für Goethes Sohn:
Sie trat, etwas schwankend, auf ihn zu, nahm seinen jungen Kopf mit dem Backenbärtchen, dem Wuschelhaar zwischen ihre Hände und küßte ihn, wie es bei seiner entgegengeneigten Haltung nicht unbequem war, mit zarten Lippen auf die Stirn.
»Leb er wohl, Goethe«, sagte sie.
(Th. Mann, S. 262)
Zu guter Letzt ein psychoanalytisches Leckerli. Beide Autoren beschreiben die Erektion des erwachenden Goethe.
Thomas Mann gibt nichts als verschwiemeltes Gartenlauben-Gesäusel:
Wie, in gewaltigem Zustande? In hohen Prachten? Brav, Alter! So sollst du, muntrer Greis, dich nicht betrüben
(Th. Mann, S. 262)
Wie klar und männlich drückt sich dagegen Martin Walser aus:
Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte. S w s w.
(Walser, S. 285)
S w s w n n soll ein Akronym aus der Geheimsprache der Levetzow-Schwestern sein: So weit sind wir noch nicht. (Walser S. 123) Trotzdem weiß hier jeder Talkmaster, was die Stunde geschlagen hat. Genug!
Wir schreiben das Jahr 1823. Goethe wurde im August vierundsiebzig. Während der herbstlichen Kutschfahrt von Karlsbad ins heimatliche Weimar notiert er auf jeder Poststation eine neue Gedichtstrophe. Am Ende ist es die »Marienbader Elegie«, eines der bleibend gültigen Werke deutscher Poesie. Ulrike wird das Ereignis in ihren späten Erinnerungen auf den Punkt bringen: »Keine Liebschaft war es nicht.«/8/
Prädikat für die Kultusministerkonferenz: Sehr empfehlenswert als Pflichtlektüre an Höheren Lehranstalten.
Guter Rat für Menschen mit Lesebrille: Falls der nächste Sommer wieder völlig verregnet ist, wählen Sie als Urlaubslektüre »Lotte in Weimar«!
Heißer Tipp für junge Kinogänger: Schauen Sie sich ersatzweise die Literaturverfilmung der DEFA an. Die ist epochal und natürlich in den fünf Bänden von Reclams »Filmklassikern« unerwähnt.
Anmerkungen
/1/ »Döbereiners Zündmaschine« nannte man das Wasserstoff-Platin-Feuerzeug.
/2/ Vgl. Georg Brandes, Goethe, S. 704 (lesenswerte Monographie)
/3/ Germanistische Studien zu Goethes letzter Liebe u. a. von H. Sauer, Ch. Du Bos, Ph. Witkop, P. Meuer, R. Schneider, D. v. Gersdorff, Wilh. Pfeifer.
/4/ Schwabe, Tudyka und Bedürftig haben es trotzdem nicht in Walther Killys Literaturlexikon geschafft.
/5/ Bode, Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Nr. 2206
/6/ Thomas Mann bezog sich auf den letzten Roman seines Bruders Heinrich »Der Atem«.
/7/ Im folgenden zit. nach: Thomas Mann, Romane und Erzählungen, Aufbau 1975, Band 7
/8/ Wilpert, Goethe-Lexikon, S. 629