Dieser Film ist köstlich. Dieser Film ist grässlich: Viel zu viele Bilder! Noch eine Person, noch eine Geschichte, noch eine Randnotiz. Und die Schauspieler sind auch zu schön! Nichts aber auch gar nichts lässt Guiseppe Tornatore in seinem "Baarìa" aus. Die Arbeit kommt daher wie dieses viel zu üppige italienische Essen. Nach dem vierten, dem fünften oder sechsten Gang auch noch diese süße, schwere Zabaglione. Da muss einem ja schlecht werden. Aber nur, wenn man isst wie die Deutschen: Zack, auf den Tisch, gesund und ab damit! Äße man wie die Italiener essen, gemächlich, mit viel gutem Wein, zwischendurch auch diesen oder jenen Grappa, hier ein Gespräch und dort auch noch eins, dann wäre man nach drei, vier Stunden ziemlich voll und ziemlich glücklich. Tonatores Film kann mit seinen fast drei Stunden ähnliche Gefühle auslösen, wenn es nicht Zack gehen soll.
Es ist gut, wenn man weiß, wo man herkommt: Tornatore kommt aus Bagheria unweit von Palermo, dass alle nur Baarìa nennen. Der Maler Renato Guttuso stammt auch aus diesem Ort. Es ist bitter arm, das Baarìa, in dem der Regisseur aufwuchs und 28 Jahre lebte. Das zeigt und erinnert er mit den ersten Bildern, zu Beginn der 30er Jahre. Es gibt daneben auch ein reiches Baarìa, das, in dem die Adligen aus Palermo ihre überladenen Villen bauten, das, in dem die Mafia sich eine fette Scheibe von allem abschneidet. Auch das weiß Tornatore, der uns drei Generationen seiner Familie und ihrer Nachbarn zeigt, immer noch ganz genau. In der ersten Generation muss der Vater den Sohn einem Schäfer als Gehilfen verkaufen: Für Käse, um die Familie am Fressen zu halten. Der kleine Peppino erkennt die, die an den fetten Scheiben kauen genau. Auch, weil sein Vater zur Minderheit der Italiener gehört, die nicht dem Duce hinterherlaufen: Er macht sich über einen der faschistischen Bonzen lustig und landet im Gefängnis.
Noch ein Bild und noch ein Bild, eins schöner als das andere, das schönste aber gelingt dem Regisseur als er das Ende des Krieges schildert: Die alte Ordnung zerbricht und die neue ist noch nicht existent, da entfesseln sich die Leute von Baarìa, da stürmen sie die Magazine und das Rathaus und als dort der Tresor ihrer Wut und Raublust zu widerstehen scheint, da kommt von ganz am Rand der rasenden Menschenmenge eine Spitzhacke, von Hand zu Hand wandert sie über die Köpfe, wo gerade noch jeder für sich klauen wollte - einen Stuhl, eine Tür, nur irgendwas - formt sich die Masse für einen Moment zu einem Willen: Erst der geöffnete Tresor ist die gelungene Befreiung vom Faschismus, aber dann ist auch genug mit der Formierung, jetzt raubt jeder wieder für sich selbst. Wer sich für einen Moment vorstellen mag in Schwedt oder Heidenheim hätten die Einwohner nach dem Krieg die Zerschlagung des Faschismus mit einer Plünderung gefeiert, der arbeitet sich gerade an die unterschiedlichen Ess- Seh- und Politik-Gewohnheiten der beiden Völker in jener Zeit heran.
Renato Guttuso, der natürlich auch im Film vorkommt, war nicht zufällig der prominenteste Vertreter des modernen Realismus, und dass er 1940 Mitglied der kommunistischen Partei wurde, war der Schnittkante zweier Notwendigkeiten geschuldet: Der Lehrling eines Karrenmalers kam von unten. Auch Peppino, in dem man getrost den Vater des Filmemachers vermuten darf, wird aus der selben Unten-Oben-Arm-Reich-Logik Kommunist. Tonatore begleitet diese Entwicklung mit ein wenig Spott und viel Respekt: Da fehlt dem armen Peppino für die Reise in das kalte Moskau ein Mantel und die Partei beschliesst, dass ein anderer ihm den seinen gibt. Das erinnert dann doch verschmalzt an Sankt Martin auf kommunistisch. Aber wenn Peppino die Aktion der Landarbeiter zur Enteignung der Großgrundbesitzer anführt, wenn er sich die Fresse blutig hauen lässt im Dienst seiner Klasse, dann ist da kein Augenzwinkern, kein Späßchen, dann bleibt Tornatore angemessen demütig gegenüber einer Generation, die zumindest versucht hat sich zu emanzipieren.
Es kommt alles vor: Die Geisterseherin, die katholische Folklore, die Not der Gastarbeiter, alles, alles, alles. Aber vor allem ist die Zuneigung Tornatores zu seinem Land, zu seinen Leuten, zu spüren. Und die Wehmut: Denn der Film ist der Nachruf auf ein Italien, das es nicht mehr gibt. Das Italien einer selbstbewussten Linken, ein Land der Leser und des Widerstandes. Es ist dem Berlusconismus gewichen, den schlechten TV-Shows und der widerlichen Schauspielerei, die für Politik ausgegeben wird. Mit Francesco Scianna (Peppino) und Margareth Madé (Mannina, Peppninos Frau) hat der Regisseur ansehnliche Schauspieler ausgewählt. Aber sein bester Darsteller ist die Musik von Enrico Morricone, dessen Dirigentenstab noch dem abgelegensten Bild jene Tupfer verleiht, die es zum Strahlen bringt. - Dieser Film ist köstlich, aber um das zu entdecken, muss man ihn in Ruhe genießen.
Der Film kommt am 29. April in die Kinos