Die Regeln für redliche Intellektuelle waren einst einfach: Wer unten war, dem wurde geholfen, wer oben war, der wurde geprüft. Dieses bewährte Prinzip hat sich, spätestens mit dem Auftreten von Muslimen auf dem Plan gesellschaftlicher Schöpfung, geändert. Denn Muslime sind gläubig. Anders als die Algerier der 50er Jahre, die Vietnamesen der 60er oder die Chilenen der 70er, denen der deutsche Intellektuelle gerne zur Seite trat. Auch tragen Muslime Bart, nicht die spitzen Lenin- oder Trotzki-Bärtchen, mit denen sich mancher im Westen in den 60ern schmückte, sondern solche Kaffeewärmer aus Haar, wie sie gern von DDR-Oppositionellen getragen wurden. Vor allem aber sind Muslime radikale Verlierer: Keine Industrialisierung wie die Chinesen, kein handgearbeitetes Karma wie die Tibeter und nicht einmal eine angebliche Bedrohung wie etwa Auschwitz für die Kosovaren. Schon der ehemals linke Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger lehnte die Muslime vor drei Jahren mit seinem Buch "Schreckens Männer" grundsätzlich ab: Er hatte seine Illusionen verloren, das sollten diese Verlierer zu spüren bekommen. Louis Begley, der amerikanische Intellektuelle jüdischer Herkunft, sieht das ein wenig anders.

Der Schriftsteller Louis Begley glaubt aus einem Alptraum aufzuwachen: Endlich ist die Bush-Zeit vorbei, die Zeit der Folter, der illegalen Masseninhaftierung, der ständigen Verletzung amerikanischer und internationaler Gesetze. Und weil der Alp gewichen und der böse Traum verarbeitet werden soll, hofft er im Vorwort seines neuen Buches auf die Wende durch Obama und schreibt als Titel: "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte". Auch wenn seine Arbeit sich wesentlich der Dreyfus-Affäre widmet, jener antisemitischen Kampagne gegen einen französischen Offizier, begonnen im Jahr 1894, präsentiert er eine Fülle von Fakten und Informationen über Guantánamo, die nur einen Schluss zulassen: Guantánamo ist - im Vergleich der Rechtsbeugung und der rassistischen Motivation - der potenzierte Fall Dreyfus.

Der brave assimilierte Jude Dreyfus, der erfolgreiche Absolvent französischer Eliteschulen, der Sohn einer reichen Familie aus dem Elsaß sollte in den französische Generalstab aufsteigen. Das war für die verknöchert-katholische Offiziers-Kamarilla undenkbar. Als zufällig eine undichte Stelle im Generalstab aufgedeckt wurde, konstruierte sie aus dem Geheimnisverrat den Fall Dreyfus, einen Fall, den es nie gab und der den unschuldigen Hauptmann Alfred Dreyfus für Jahre auf die Teufelsinsel bringen sollte, ein frühes Vernichtungsgefängnis des französischen Staates. Die Affäre Dreyfus spaltete nicht nur ein Land, sondern auch eine ganze Welt in die Lager dummdreister Rassisten und solche, die im Rassismus eine gefährliche Krankheit sahen. Zu den letzteren gehörten auch die englische Königin Victoria, der amerikanische Schriftsteller Mark Twain und der Forschungsreisende Henry Morton Stanley.

Manchmal, so kann man glauben, landet das Fortschreiten der Zeit im Rückschritt: Kein europäisches Staatsoberhaupt dieser Tage hat sich für die Häftlinge von Guantánamo eingesetzt. Es gab keine große, europäische Medienkampagne zur Rettung der Häftlinge, wie es eine für Dreyfus gab, die im "J´accuse", in der kühnen Anklage Emile Zolas, mündete. Riskiert man einen Blick auf das Deutschländchen, in dem wir leben, fällt einem das Schicksal des Murat Kurnaz ins Auge: Der gebürtige Bremer wurde für Kopfgeld von pakistanischen Behörden an die USA verscherbelt, um dann vier Jahre in Guantánamo misshandelt zu werden. Die USA wollte den Unschuldigen loswerden, die deutschen Instanzen wussten von Kurnaz und wollten ihn unbedingt dort lassen wo er war. Der damalige Kanzleramtsminister und heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier war über den Fall informiert und griff nicht ein. Kein Zola, nirgends.

Für die USA führt Begley den tiefen Schock nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als Erklärung für Perversion des amerikanischen Rechtssystems an. Eine eher hilflose Bemerkung über das "unbedachte Irak-Abenteuer der US-Regierung" macht deutlich, wie sehr der Autor, trotz aller Kritik, in falscher Loyalität zu seinen USA befangen ist. Der französischen Armee attestiert er das Trauma der Niederlage gegen die Deutschen im Krieg von 1870/71 als eine Ursache für die antisemitische Hysterie, die in der Verfolgung und Verurteilung des Alfred Dreyfus gipfelte. Im Fremden einen Feind sehen, das ist fraglos eine sehr beliebte Reaktion auf nationale Verunsicherungen. Mal ist es "der Jude". Dann sind es "die Muslime". Mal ist es die Schmach von Sedan, die gerächt werden muss, dann ist es Kampf gegen den Terror, der die einstürzenden Twin Towers vergessen machen soll.

Begley macht die Augen auf und sieht die Parallelen: Gesetzesänderungen waren nötig, um Dreyfus auf der Teufelsinsel zu inhaftieren, er unterliegt einer komplette Kontaktsperre, die Presse erhält keine oder falsche Informationen, der Häftling wird acht Wochen lang angekettet. Die Ketten der Häftlinge in Guantánamo waren ständig im Einsatz und die Methoden der Folter wurden fraglos weiter entwickelt: Schläge, sexueller Missbrauch, Demütigungen aller Art, Elektroschocks und Schlafentzug konkurrierten mit dem beliebten "Waterboarding". Und während Dreyfus nach vier Jahren die Teufelsinsel verlassen durfte, sind manche Guantánamo-Häftlinge seit 2002 im Lager inhaftiert, mehr als 200 warten immer noch auf rechtsstaatliche Verfahren.

Die Hoffnungen Begleys auf Obama haben erste Antworten erfahren: Der neue Präsident wendet sich gegen die Veröffentlichung von weiteren Folter-Fotos aus den Terror-Gefängnissen und gegen die Schliessung der "Militärtribunale", Einrichtungen, die dem Recht Hohn sprechen. Sie werden weiter über Häftlinge richten von denen manche schuldig sein mögen, kaum schuldiger als eine kriminelle Vereinigung rund um den ehemaligen Präsidenten der USA, die wohl kaum vor ein Tribunal treten werden muss. Das alles ändert nichts am Mut Begleys, den muslimischen Verlierern mit Leid zu begegnen, jenem Leid, dass redliche Menschen, sie müssen nicht Intellektuelle sein, empfinden, wenn anderen Unrecht geschieht. Weil sie wissen: Nach den jeweils anderen sind wir dran: Mit den Einschränkungen der Demokratie, mit der Verwicklung in Kriege, mit der Entscheidung für den Erfolg der Banken, des Weltwährungsfonds und dem Verlust von Redlichkeit.