Die Türkei ist Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Türken in Deutschland sind Bürger zweiter Klasse. Istanbul wird in 2010 europäische Kulturhauptstadt sein. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei steht in den Sternen, d. h. in den populistischen Wahlkampfaussagen konservativer Parteien. Seit 1961 wandern Türken nach Deutschland ein, dass sie hier bleiben würden, war nicht vorgesehen. Die zweite Modernisierungswelle in der Türkei ist von einer islamischen Partei ausgelöst worden. Der Islam gilt den deutschen Medien und deutschen Großdenkern wie Enzensberger unverändert als finsteres Mittelalter. Das Türkei-Bild der Deutschen ist vom Ganzkörperkondom jener Bauersfrauen aus der Türkei bestimmt, die man in Berlin-Kreuzberg oder Köln-Ehrenfeld antreffen kann.

Wozu taugt die Türkei vorrangig? Zum Aufregen. Das könnte man glauben, wenn man die an- und abschwellenden Polit-Gesänge zur EU-Mitgliedschaft des Brückenlandes zwischen Europa und Asien hört. Und auch die deutsche Debatte über die 2,5 Millionen aus der Türkei stammenden Menschen, die in Deutschland leben, kennt hauptsächlich die Stichworte Kopftuch, Islam, Terror und Parallelgesellschaft. Zwei Frauen, die Türkin mit Nilüfer Göle "Anverwandlungen" (Wagenbach Verlag) und die Deutsche Annette Großbongardt "Istanbul Blues" (Rowohlt Verlag) bereichern mit ihren Büchern diese Debatte. Großbongardt, die lange als Korrespondentin in Istanbul gelebt hat, mit einem praktischen, journalistischen Ansatz und Göle, die in Paris als Professorin lebt, mit einem eher wissenschaftlichen Beitrag. Beide sind sicher, dass sich die Türkei auf Europa zubewegt, das organisierte Europa aber in einer Skepsis verharrt, die nicht unbedingt auf Kenntnis gründet.

Mit leisem, aber lesbarem Lächeln erinnert die franko-türkische Autorin Nilüfer Göle daran, dass ausgerechnet die türkische Revolution, die Modernisierung unter Kemal Atatürk in den Jahren 1924 bis 1938, die Frauen zu Staatsbürgern machte, ihnen zu einer Zeit das Wahlrecht gab, als der Westen den "neuen Menschen" noch ausschließlich für einen Mann hielt. Der junge, laizistische Staat Türkei wollte die Frauen "sichtbar" machen. Sein Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen wandte sich gegen den beherrschenden Islam, ohne die Religion selbst infrage zu stellen. Die Verwalter des Kemalistischen Erbes begreifen deshalb das Wiederauftauchen von Kopftüchern an Universitäten und bei Gattinnen hochrangiger Politiker als Angriff auf den laizistischen Staat. Großbongardt sieht diese Auseinandersetzung als "Symbol eines Machtkampfes", weniger eines Kampfes um die reine Lehre. Eher darum, wer die lukrativen Posten erhält: Die alten Eliten oder die neuen, die sich um den islamisch geprägten Präsidenten Erdogan formieren.

Während die deutsche Kopftuchdebatte eher von Sorge um Rückständigkeit und Unterdrückung der Frau geprägt ist, sehen die beiden Autorinnen eine neue Generation selbstbewusster Muslima, die sich sowohl zu ihrer Herkunft bekennen, als auch am Modernisierungsprozess der Türkei teilnehmen. Dass die Türkei, unter der Führung einer islamisch geprägten Partei, Fortschritte macht, wird von beiden Autorinnen unterschrieben: Eine Modernisierung des Strafrechts, die Wahrnehmung des Kurdenproblems und die immerhin Verdoppelung der Anzahl weiblicher Angeordneter im Parlament zeugen von einem ziemlichen Modernisierungseifer. Auch wenn der primär vom Wunsch EU-Mitglied zu werden ausgelöst wurde, spricht er doch gegen die These, dass die islamische Mehrheit den Fortschritt in der Türkei zurückdrehen will.

Nilüfer Göle konstatiert die Rückkehr gebildeter Frauen zum Kopftuch, auch als ein Schöpfen aus einem "doppelten kulturellen Kapital", dem religiösen und dem laizistischen. Sie hält das für ein Zeichen eines neuen Selbstbewusstsein, dass in einer westlichen Welt der permanent enthüllten Frauenkörper, in einer Umgebung, die auf Menschen islamischer Herkunft herabblickt, Ausdruck für eine ganz eigene Form von Modernität ist. Wenn die Autorin dann den Schleier, das Kopftuch als eine ähnliche Absage an die Machtverhältnisse zwischen den Weltzentren und der Perepherie begreift, wie jene der Selbstmordattentate, dann liefert sie dafür wenig an Beweis. Einzig die Tatsache, das nicht wenige der Attentäter im Westen ausgebildet waren, also den Widerspruch zwischen Tradition und Moderne in sich austragen mussten, liefert einen kleinen, sachdienlichen Hinweis.

Wenn uns die franko-türkische Wissenschaftlerin daran erinnert, dass es wiederum die islamische Partei AKP war, die im März 2003 die Türkei aus dem Irak-Krieg heraus hielt, wartet Annette Großbongardt mit der tiefen Verwurzelung der Türkei im Westen auf: Schon 1949 Mitglied des Europarates, 1950 an der Seite der USA im Korea-Krieg, seit 1952 Mitglied der NATO und 1963 als assoziiertes Mitglied in die EWG aufgenommen. Mit sichtlichem Vergnügen zitiert Großbongardt das prominente CDU-Mitglied Walter Hallstein aus jener Zeit: "Die Türkei ist ein Teil Europas". Von beiden Autorinnen erfährt man nichts über die Haltung der Türkei im kalten Krieg, ihre Position als "unsinkbarer Flugzeugträger der USA", die ihr über Jahrzehnte eine Sonderrolle unter den islamischen Länder verschafft hatte. Aber genau diese Rolle ist es, da ist sich Nilüfer Göle sicher, die dem Land die terroristischen Anschläge von Istanbul eingetragen hat: "Die Angriffe richten sich gegen das, was die Türkei repräsentiert: Ein anderes Bild des Islam . . . den Islam mit menschlichem Antlitz".

Mit einer Reihe von Miniaturen aus dem Alltag der Türkei gibt Annette Großbongardt den Lesern ein farbiges, von Sympathie begleitetes Bild der modernen Türkei: Sie handelt über die erstaunlichen Fortschritte türkischer Ökonomie und paralleler Armut, von beschämender Frauenarbeitslosigkeit und beindruckenden Frauen an den Schaltstellen ökonomischer Macht. Sie schreibt über türkisch-europäische Missverständnisse und über die vielen Spuren europäischer Kultur in der Türkei. Nilüfer Göle hält ein langes, differenziertes Plädoyer dafür, "den Westen" nicht mit der Zivilisation gleichzusetzen: Gerade in der Türkei sieht sie jenen Staat mit islamischer Mehrheit, dessen Entwicklung Europa bereichern kann. Und wer die vielfältige Türkei kennt, der wird sich dieser Auffassung anschließen.