Eine heroische Bemühung um eine denkbar unheroische Erscheinung. Die Herausgeber haben sich tief in die hinterlassenen Zeugnisse der Vagabunden eingearbeitet, Fähnders nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Anarchisten und allerlei Linken und Selberdenkern, und nun legen sie ein vielstimmiges Panorama von Texten und Bildern vor: So sahen sie sich, die schlecht angesehenen, aber aufrechten „Könige der Landstraße“.
Trotz des starken Tons, zu dem nicht wenige „Kunden“ und Fürsprecher greifen, in der Darstellung ihrer realen Lage dominiert das Elend pur. Hunger bis zur Auszehrung und Lebensangst. Kälte bis ins Mark, und ständig wieder hinaus in jede Witterung. Nirgends sicherer, ausgiebiger Schlaf, manchmal „Schlafen verboten“; auf einer Zeichnung ein Zusammensinken der ganzen Person schon im Stehen und Weitertappen.

Immer allein; von der Lieblingsbeschäftigung zwischen Männern und Frauen höchstens schäbige Surrogate. Dazu Schmutz und Ungeziefer, Krankheiten, frühes Altern, die Mühsal und Erniedrigung des Bettelns („schwerer als acht Stunden Arbeit“, Tombrock), die miese Versorgung durch die „Wanderfürsorge“, die Ausstoßung, der Hohn oder die bloße Ungerührtheit der Bessergestellten. Die Anklagen werden mächtig, in einer weiten Skala von kläglich bis frech. Die schärfste Anklage liegt in der Gestalt selbst („Sieh hin!“), schon in den Augen, wie sie „flackern, irren, suchen“ und verzweifeln (S. 80f.). Der Mensch in dem Bündel Elend wehrt sich dagegen, zum Objekt gemacht zu werden, sei es auch „nur“ ein Objekt der Neugier.

In ihrem fortlaufenden inneren Monolog (selbst wenn sie laut werden, monologisieren sie weiter) begehren sie auf und phantasieren von einer momentan praktizierten oder auch einer grundsätzlichen Umkehrung der Sozial-, d. h. Besitzordnung. „Nicht betteln, stehlen!“ (S. 157) oder gar „Kampf“, „Revolution“. Fähnders betont sehr den Widerstand. Den Höhepunkt seiner „Epoche der Vagabunden“ findet er in den Organisationsanstrengungen, vor allem von Gregor Gog: Sie sind zu Hunderten zusammengeströmt, z. B. in Stuttgart 1929, und haben sich kämpferische Reden über das Vagabundendasein angehört, mit viel Beschwörung ihrer „Bruder“schaft.

Fünf Jahre lang hatten sie sogar eine Zeitschrift, die hier, erstmals, liebevoll dokumentiert wird. Die Dokumente sprechen aber auch vom Versagen und ungeschminkt von den engen Grenzen der Solidarität. „Generalstreik das Leben lang!“ klang gut, aber wie sollten Bettler streiken? Weder im Gefolge des Proletariats (wie Gog später, von der Sowjetunion aus wollte, wie Gorki ihnen schon 1929 zugeredet hat) noch als eigener besonders kämpferischer Trupp haben Vagabunden etwas ausgerichtet. Was geben ihre Zeugnisse trotzdem zu erkennen?

Bettler wussten sich, damals, immerhin zu helfen. Die Könner verfügen über den richtigen Ton, die angegangenen Mitmenschen gerade soweit zu rühren wie nötig. Im Klartext, noch früher, bei den berühmten „Orientkunden“: „wird grob, wenn er nichts bekommt“ (S. 151 f.). Das Infosystem der „Kundenzinken“ beherrschten wenigstens die Erfahrenen noch.
Die Weite, die Nicht-Gebundenheit war attraktiv auch für manche, die nicht zum Streunen und Betteln verdammt waren. Ein „akademischer Tippelfreiwilliger“ (Roltsch) findet im Wandertrieb [nicht „Wanderbetrieb“, S. 76] ein „altgermanisches Erbe“, andere eher eine der Menschheit eingepflanzte Gabe, den Trieb zur Sesshaftigkeit zeitweilig auszusetzen oder gar umzukehren. Abenteuerlust, „Romantik der Landstraße“, Freude an der Vielfalt der begegnenden markanten Typen (Szittyas „Kuriositäten-Kabinett“) usw., in Lasker-Schülers beklemmend einlässigen Versen sogar: „An allen Höllen unsere Lüste schleifen“.

Grenzen aller Art sind dazu da, dass sie überschritten werden. Die Fähigkeit, sich auf beiden Seiten zu erhalten, auch sprachlich, erwirbt man am besten, indem man es tut. Gegen den Nationalismus und vielerlei Cliquenegoismen haben die Vagabunden viel aufzubieten, u. a. praktische Kenntnisse. Dass die gesittete Menschheit gerade wieder zu einem Krieg gegriffen hat, verbuchen sie als sicheres Zeichen von Wahnsinn.

Die Sorge um das Notdürftigste wurden die Obdachlosen ihr Lebtag nicht los, und trotzdem entwickelten sie, manche, manchmal, eine merkwürdige Unbekümmertheit. Sie pfeifen auf vielerlei, worum und womit die Besitzenden sich plagen, auch auf deren jeweilige Fetische und „höchste ‚Güter’“. Selbst noch drastischer vergänglich als die Sesshaften, verbrüdern sie sich dem „Wind“, der über alles weggeht (werden aber dadurch nicht selber dauerhaft, wie Fähnders extrapoliert). Weil sie weniger auf Besitz aus sind, nennen sie sich lebendiger oder auch „reicher“ als die anderen („das All ist mein“, Sonka). „Eine Sonne scheint für alle“ (S. 131). Wenn sie Trost brauchen oder Stärkung in beflügelnden Visionen, zitieren sie Laotse und Tschuangtse, Villon, Rimbaud und Whitman, den alten Eulenspiegel oder eine Frechheit aus dem „Wahren Jakob“.

Was und wer sie selber sind, ist unfest, eher ein großes Rätsel (s. das Selbstporträt von Streiter, s. den „ewigen Bruder“ von Tombrock) als ein zuverlässiges Zentrum für Kämpfe. Ich „halte mich selber in Händen“, schreibt vermutend-einfühlsam Gertrud Kolmar. Szittya dagegen zitiert „seelisch wunde“ Zustände, in denen selbst ein Ich nicht mehr zur Verfügung steht. „Manchmal möchte man ganz gern den Verkehr mit sich abbrechen“; „Man müßte sich von sich selber entlasten können, um wirklich Selbstmord zu begehen“. „Ich bin“ alles Vorstellbare, was ich eben doch nicht bin, expliziert Haringer kurzweilig-monoton in 16 Varianten. „Ich bin das traurig in der Zelle gepfiffene lustige Lied“.

Tombrock wirbt in seiner emphatisch-idealistischen Ansprache an seine „Brüder“, die „Kunden“, um Konzentration auf das Elementarste, das „Recht zum Leben“. „Besinne Dich immer wieder darauf, daß Du im Hauptberufe Mensch bist.“ Alles andere, Äußerliche soll keine Bestimmungsmacht haben, also auch keine Furcht erregen können. Rudolf Geist, der theoretisch beschlagenste der Vagabunden-Intellektuellen, sieht die stärkste Kraft der Habenichtse darin, dass sie „Glauben, Vertrauen und Furcht vor der Autorität“ zersetzen – damit hätten die russischen Vagabunden und „Wintergänger“ ein Gutteil der Oktoberrevolution vorbereitet.

Vagabunden gab es als wahrnehmbare Erscheinung, d.h. als „Problem“ der Gesellschaft seit dem späten Mittelalter. Zu einer „Epoche der Vagabunden“ brachten sie es noch nicht durch bloßes Anwachsen ihrer Zahl (in der Weltwirtschaftskrise bis ins Unermessliche) und ihres Selbstbewusstseins, sondern erst dadurch, dass sie ihre Lage auch artikulierten und dass tippelnde wie sesshafte Intellektuelle sich ihrer Sache annahmen und sie gedanklich, symbolisch, emphatisch, reflektierend und so praktisch wie möglich zu ihrer eigenen Sache machten.

Dass die diskutierenden und dichtenden Bohémiens der vagabundischen Existenz ihre Zunge liehen, macht diese interessanter, schärfer wahrnehmbar, das Problem dringlicher, es verschiebt das Problem aber auch zu einem der intellektuellen und emotionalen Teilnahme. Das ist für einen solchen Band höchst zweckdienlich. Dennoch tun die Leser_innen gut, das Tippeln und das Schreiben darüber als zweierlei wahrzunehmen.

Diese Form des Lebens, des Selbstbewusstseins und des Verhaltens zur Gesellschaft wurde so brutal wie historisch möglich abgebrochen. Schon auf dem Gipfelpunkt 1929 wurde das ganze Biotop etwa in einem Pressebericht als „niederrassig“ klassifiziert. Nach dem zweiten Krieg sorgte die Veränderung der Lebensansprüche wie der staatlichen Wohlfahrt dafür, dass sich keine vergleichbare Bewegung mehr bildete. Angesichts der psychischen und physischen Kosten der Vagabondage wäre es vermessen, das schade zu finden. Der Widerspruch gegen die Welt der Besitzenden, gegen das Prinzip des Habens und Ausschließens aller anderen rührt sich natürlich auch heute in vielen Formen. Nur so fassungslos erstaunt und missbilligend (weil auf kürzere Distanz), so kiebig, sarkastisch, ätzend oder abgrundtraurig wird er wohl nicht mehr geäußert werden wie in der nachträglich als „klassisch“ erscheinenden Welt jener Vagabunden.