Der Berenberg Verlag bleibt seiner drei Jahre jungen Tradition treu: Er fährt über Land, eigentlich über Länder, sucht nach ungehobenen literarischen Schätzen in fremder Sprache, lässt sie übersetzen und gibt ihnen dann eine bibliophile Form, nach der man biblioman werden könnte. So hat der Verlag es auch mit "Der Wahrheitshass" von Georg Brandes betrieben. Brandes, ein dänischer Journalist der 1877 nach Berlin zieht und dort fast zehn Jahre lebt, hat sich im vorliegenden Band mit "Deutschland und Europa von 1880 bis 1925" beschäftigt und wer glaubt, dieser lange zurück liegende Blick entbehre der Aktualität, der irrt. Denn der Autor, dem der Verlag attestiert, er habe den ersten Weltkrieg vorausgesehen, setzt sich ebenso ruhig wie verbissen mit einer verlogenen Öffentlichkeit, einem Deutschland der Kriegsvorbereitung und einem Europa der Gegensätze und des blühenden Nationalismus auseinander.

Eine einfache Wiederaufführung der Geschichte würde natürlich auch das dümmste Publikum bemerken und die Wiederholung alter Fehler zu vermeiden suchen. Deshalb kleidet sich die neue Zeit in prächtige Gewänder unter denen die Grundzüge alter Verhältnisse nahezu komplett verschwinden und kann so mit Erfolg das alte Stück für ein völlig neues, völlig anderes und ganz sicher besseres ausgeben. "Hätte die jahrhundertelange politische Knechtschaft dem deutschen Rückgrat nicht einen Knacks versetzt, . . . dann wäre es unmöglich, mit offener oder stillschweigender Zustimmung des Mittelstandes in Gang zu setzen, was momentan vor sich geht, nämlich die systematische, nach allen Regeln funktionierende Unterdrückung aller Organe, durch die das gemeine Volk atmet und sein geistiges Leben lebt." Schreibt Brandes 1878 auf und meint die Unterdrückung von Frauen, die Rechte wollen, meint Haftstrafen wegen Majestätsbeleidigung, meint die Verfolgung der Sozialisten. Na, und sagt die neue Zeit machen wir so etwas? Nein, wir haben die Frauen zu Girlies emanzipiert, ohne Verfahren kommen nur Asylanten ins Gefängnis und die Linken sitzen im Parlament, dürfen allerdings, wenn sie Bisky heißen, leider nicht Bundestagspräsident werden. Das gemeine Volk amtet Raab und Gottschalk, sein geistiges Leben ist zwischen Bildzeitung und SAT 1 gut aufgehoben, und die Mittelschicht bringt ihre Kinder auf dem Gymnasium vor dem Prekariat in Sicherheit. Und der Krieg? Da ist der damalige Erbfeind Frankreich heute auf das Schönste durch den internationalen Terrorismus abgelöst: Er findet, bisher schwer sichtbar, weit weg, in Afghanistan statt.

Brandes ist mit dem doppelt fremden Blick ausgestattet: Der Däne, Bewohner eines kleinen Nachbarlandes sieht das große Deutschland aus anderer Perspektive und die wird durch seine jüdische Herkunft, die ihm gleichgültig ist, die er aber immer wieder von außen aufgezwungen bekommt, noch einmal geweitet. Deshalb erkennt er den deutschen Militarismus in den schlagenden Verbindungen und hat eine "Ahnung vom Weltkrieg", wenn er die mangelnde Freiheitsliebe der Deutschen notiert, ihren Konservatismus der, so glaubt der Autor, in die Isolation und von dort in den großen Krieg führen wird. Das Thema Krieg und Frieden zwingt sich ihm immer wieder auf, so, wenn der die "Hunnenrede" des deutschen Kaiser filetiert: "Gefangene werden nicht gemacht", droht Wilhelm II als er deutsche Invasionstruppen nach China verabschiedet, "wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen." Brandes fragt, wer denn in dieser West-Ost-Auseinandersetzug der Barbar sei, welche Kulturen aufeinander prallen und gibt ungewollt und nebenbei Fingerzeige auf den "Clash of Civilisation", jene dröhnende, christlich fundierte Überlegenheitsgeste, die sich gegen den Islam und dessen Länder richtet. In diesen Tagen wird rund um das Lager in Guantanamo und dessen von Folter geprägten Scheinjustiz deutlich, wo die Barbarei zu Hause ist.

In zwei Beiträgen untersucht der Autor den Zionismus und das "Neue Judentum" und begründet kategorisch, dass Juden keine Rasse seien und das Judentum nichts anderes als eine Religion. Diese selbstverständliche Wahrheit hätte ihm in der Nazizeit nichts genützt und auch im Heute, in das die Nazizeit mit ihrem Rassenwahn giftig hineinragt, würde Brandes sich nicht viel dafür kaufen können. Wer in Berlin das jüdische Museum besucht, der wird ganz viele Erinnerungen an laizistische Juden finden, die sich selbst und zu recht als Deutsche begriffen hatten und die erst die widerliche Hitlerei zu Juden gemacht hat. Auch mit seiner Bemerkung zur künftigen jüdischen Staatsgründung, "Der Zionismus ist eine nationalistische Romantik" würden er sich in Israel und den jüdischen Gemeinden kaum Freunde machen. Aber Freunde machen wollte er sich auch nicht, er wollte Wahrheiten aussprechen und wußte doch, dass es einen "Wahrheitshass" gab, der nur andere Namen trug: "Rücksichtslose Freiheitsliebe oder tiefe Religiosität oder notwendige Politik". Wem diese Tarnnahmen bekannt vorkommen, der ist mit dem Medien- und Politikmainstream unserer Zeit vertraut.


Die volkswirtschaftlichen Kenntnisse des Autors sind begrenzt. Nach Ende des ersten Weltkrieges wendet er sich den neu aufgeworfenen sozialen und nationalen Fragen in Europa zu, um zum einen richtig zu konstatieren, "dass der nationale Kampf nun hinter dem sozialen zurücktritt" und zum anderen falsch zu analysieren, dass "der Großgrundbesitz die eigentliche Quelle des Kapitalismus" sei. Diese mangelnde ökonomische Einsicht, die er mit vielen Intellektuellen von damals bis heute teilt, hindert ihn, die enorme gesellschaftliche Kraft in der industriellen Entwicklung zu begreifen und führt ihn zu einem rührend anachronistischen Lösungsvorschlag der sozialen Probleme: "In einem sozialen Zustand, wo alle ein Stück Boden zum Anbau zu erlangen vermöchten, . . . würde man sich einer sozialen Ordnung nähern, bei welcher nur wenige zu viel und die wenigsten zu wenig hätten". Diese blinde Stelle behindert Brandes nicht, wann immer Minderheiten von Mehrheiten unterdrückt werden, sei es bei der damaligen Verfolgung der Armenier durch die Türken oder der Juden durch Russen und Polen, seine Stimme zu erheben und auch die sozialen Missstände beim Namen zu nennen: "Bildung wird mit Geld gekauft. Geld spaltet die Gesellschaft in zwei Kasten, und je höher man steigt, desto breiter wird die Kluft."

Manchmal kann man beim Lesen von "Der Wahrheitshass" depressiv werden: So viel Erkenntnisse, so früh und so klar ausgesprochen und was hat es genützt? Aber auch wenn Brandes mit einem Zitat von Ludwig Thoma über die Lügen der Presse, die "durch Wiederholen und Wiederholen zu unantastbaren Wahrheiten werden" desillusioniert, bleibt am Ende des Buches doch Ermutigung: Dann fangen wir eben immer und immer wieder von vorne an, um, wie Friedrich Sieburg in der "Weltbühne" über Georg Brandes schrieb, "das Geschäft zu stören".