Läse man den neuen, 700 Seiten dicken Sloterdijk "Du musst Dein Leben ändern" von hinten aus, würde man zum einen einer Hausfrauenweisheit begegnen: So kann es, meint der Meister auf der Seite 699, nicht weitergehen! Mit der Unordnung in der Welt und unter dem Sofa nicht, und nicht mit der Verwirrung des Geistes und den aufgelösten Maschen des Pullovers. Nicht dass die Sicht einer Hausfrau (natürlich sollte sich der Hausmann auch angesprochen fühlen) verächtlich wäre. Im Gegenteil. Zur Erfassung der wirklichen Lage benötigt sie häufig weniger Zeit als dieser oder jener Philosoph. Aber die Erkenntnis des So-geht-es-nicht-weiter ist, ohne das Aufnehmen der Maschen und das Verrücken des Sofas, ein unziemlich kleiner Hebel, um die Änderung der Zustände herbeizuführen. Geschweige, dass man die Änderung der Umstände damit angehen könnte. Das allerdings wäre der Weltkrise angemessen.
Vielleicht hülfe ein anderer Gedanke Sloterdijks der Welt-Lage zu einer Änderung, zum Weitergehenden: Sein Wunsch, der einzelne solle begreifen, dass der wahre Egoismus in der "Größerformatierung des Eigenen" zu sehen sei. Das hat Jesus, wenn es ihn denn gegeben haben sollte, bereits besser auf die griffige Formel von der Nächstenliebe gebracht. Auch findet sich dieser erweiterte Egoismusbegriff konkreter bei den sozialistischen Vordenkern und unter den jüngeren Nachdenkern hat es Dietmar Dath mit der Formulierung "Ich habe nichts gegen Egoisten. Bloß ein bisschen egoistischer könnten sie sein" auf den Punkt gebracht, an dem das einzelne Interesse eben nur kollektiv wahrgenommen werden kann. Wenn also gegen Ende des Buches die Binse der Stoff ist, aus dem die Sloterdijksche Weisheit gemacht ist, muss man vielleicht seinen Produktionsweg verfolgen, um seiner Wahrheit nahe zu kommen.
Ganz vorne im Buch ist Rilke. Der hatte, bei der Betrachtung eines in Stein gehauenen Torso, sein allfälliges Gedicht mit dem Imperativ "Du musst Dein Leben ändern" enden lassen. Diese "Stimme aus dem Stein" nimmt Sloterdijk auf, um sie auf den nächsten Buchseiten transzendieren zu lassen. Schließlich heißt ja die Zeile, die er sich zum Motto seines Buches gewählt hat, nicht `Du musst DAS Leben ändern´. Das wäre dem Autor ein vulgärer, geradezu gewerkschaftlicher Appell: Wir wollen gemeinsam dieses oder jenes, wir erkennen die Welt, um sie zu verändern. So nicht. Der einzelne muss sich ändern. Wohin auch immer. Und weil das so sein sollte, muss er mächtig üben. Wer jetzt denkt, es käme das übliche `Übung macht den Meister´ der hat den Nietzsche nicht verstanden, den uns Sloterdijk als seine wesentliche Inspirationsquelle angibt.
Bei Nietzsche findet Sloterdijk seinen Trainer für das akrobatische, das asketische und leistungsorientierte Wesen, das ihm für die Änderung der Welt vorschwebt. Eine Stelle in Nietzsches Zarathustra - als Zarathustra einen gestürzten Seiltänzer tröstet, er habe aus der Gefahr einen Beruf gemacht, das hebe ihn aus dem Rest der Menschen heraus - dient dem Philosophen als Beleg für die Akrobatik-These. Lobend erkennt Sloterdijk in der Nietzsche-Metapher die Abgrenzung der Eliten von den Gewöhnlichen: Eine Gemeischaft neuen Typs entstehe, die "nicht Beitragszahler in einer versicherten Gesellschaft" sei, "sondern Mitglieder des Vereins gefährlich Lebender". Vom Akrobatischen gelangt der Philosoph zum Sport als Gleichnis für die Notwendigkeit des Übens, und man erkennt nicht so recht, ob ihm Leni Riefenstahls olympische Körperästhetik vorschwebt oder doch eher Walter Ulbrichts jovial-praktisches Wort "Jeder Mann an jedem Ort - einmal in der Woche Sport."
Weil dem Sloterdijk die Akrobatik und deren Leistung eine Herzensangelegenheit ist und er seine Sorte von Beweisen für seinen Aufstieg der Menschen durch Akrobatik überall finden möchte, gerät ihm jene Himmelsleiter in den Kopf, die im 1. Buch Mose dem Jakob erscheint. Während die gewöhnliche Bibel-Exegese an dieser Stelle nichts anderes interpretiert als die mythische Stiftung einer Religion, sieht Peter Sloterdijk eine "Akrobatensache von Anfang an" und auch "gute Gründe, zu behaupten, die Geschichte Alteuropas sei unter vielen Aspekten die Geschichte der Übersetzung der Jakobsleiter". Wenn einer eine Meinung hat, dann hat er was zu verlieren. Und wenn es die wissenschaftliche Reputation ist, die man preisgibt, um einer fragwürdigen Konstruktion einen Hauch von Plausibilität zu verleihen.
"Wer je seinen Mantel an einen Adolf-Loos-Garderobehaken gehängt hat, besitzt einen Maßstab, der sich nicht vergisst", schreibt Sloterdijk seinen "britischen und amerikanischen Kollegen" ins Stammbuch, die natürlich nicht über Haken des avantgardistischen Wiener Architekten verfügen und die man deshalb "nie wieder ernst nehmen kann". Wenn man einen solchen Satz doch für Satire nehmen könnte! Doch wird er im Zusammenhang mit einer Kultur-Definition genutzt, die sich an Wittgenstein anlehnt und in einer Überschrift mündet, die behauptet "Kultur entspringt aus Sezession". Als wäre Kultur nicht die Gesamtleistung menschlicher Gemeinschaften, sondern nur ein Ergebnis elitärer Abspaltung von der Gemeinschaft. Das ist einer der Haken bei Sloterdijk: Ihm fehlt die Einsicht in die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung, in jene kollektive, breite Anstrengung, die letztlich der Kultur die großen, einzelnen Entwicklungen ermöglichte.
So kommt es wie es kommen muss: Innovationsbereitschaft, so glaubt der Philosoph, wenn er sich den aktuellen Fragen nähert, kommt aus dem "Kreditstress, der wachsende Populationen von Schuldnern in Form zwingt". Das Wort Innovation, zerschlissen vom inflationären Gebrauch in Bankenprospekten, Autoreklamen und Politikbroschüren, bedeutet Neuerung. Insofern hat Sloterdijk so recht wie der dümmliche Bundespräsident, der in der Krise auch eine Chance zu Erneuerung sieht, gleich was die Krise kostet und wer sie verursacht hat. Wessen Denken in so kleinen Karos zu finden ist, der glaubt auch, dass sich die "neuzeitlichen Bankiers . . . als die effektivsten Motivatoren für intensivierende Veränderungen erweisen".
Wenn Sloterdijk von der "asketischen Revolte" schreibt, seinem Mittel, aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit zu gelangen, dann wird er beispielhaft deutlich. Den Hunger zum Beispiel soll man mit dem Fasten bekämpfen: So macht man "aus einer demütigenden Passivität eine asketische Tat". Wie weit das Fasten reichen soll, bis zum Tode durch eine Null-Diät vielleicht, sagt der Autor nicht. Aber sicher fungiert der Akrobat Sloterdijk mit seiner Verzichts-These als Untermann für all jene, die öffentlich das Wasser von Lohnverzicht, Rentenverzicht oder Verzicht auf Krankenkassenleistungen predigen und sich hinter den Kulissen mit den Zuwendungen aus den Arbeitgeberverbänden volllaufen lassen.
Sloterdijk ist der Lobby-Philosoph der Krise. Einer, der trotz einer ihn umgebenden Wirklichkeit weiss, dass jenes "durch Beleihung von Eigentum geschaffene Geld . . das universale Weltverbesserungsmittel" ist. Das wird ihm jeder amerikanische Hypotheken-Schuldner sicher gerne bestätigen. Einer, der die Globalisierung für ein prima Mittel hält die "Passivitätskompetenz (meint Faulheit)" zu ändern. Hartz IV-Empfänger werden dieser These fröhlich zustimmen. Einer, der sein Buch mit dem Satz einleitet: "Die folgenden Untersuchungen gehen von ihrem eignen Ergebnis aus". Das ist Merkel-Philosophie von jener Art, die vorher weiß was nachher kommt, gleich was vorher war und nachher ist. Es ist die Krise der Philosophie, die Umstände der Welt opportunistisch interpretierend, nicht etwa sie verändernd.