Nach der Wende kehrte auch der König, der einmal in Preußen regierte, wieder zurück. Man stellte seinen Sarg, der 1945 in den Westen gebracht worden war, in die Gruft auf der Terrasse von Sanssouci. Bei dieser Zeremonie achtete man feinsinnig darauf, dass nichts Östliches den heiligen Knochen zu nahe kam. So ließ man verlauten, dass nur westliche Offiziere der Bundeswehr Ehrenwache stehen durften. Nun liegt er aber doch in brandenburgischer Erde, bei Biche, in Osterde.
Wilhelm Hornung, Reiches Deutschland Armes Vaterland

Immer mal wieder versucht einer, jenen Roman über den Osten zu schreiben, auf den wir alle seit zwei Jahrzehnten warten. Meist ist es ein Autor, der anderswo sozialisiert wurde. Aber das ist – ein weites Feld. Andreas Maier seziert … komisch gewagt und ironisch verheerend die deutsche Gegenwartsgesellschaft, diesmal in einem Zentrum ostdeutscher Provinz, behauptet der literarisch wertvolle Klappentext. Selten so gelacht! Und doch versprüht sein Buch „Sanssouci“ einen gewissen spätpubertären Charme.

Maiers Potsdam ist eine Lasterhöhle, verruchter als unter Friedrich Wilhelm II. Die positiven Helden des Romans sind coole GymnasiastInnen, wie wir sie spätestens seit Heinrich Spoerls „Feuerzangenbowle“ sattsam gewohnt sind. Wer sonst soll neuen Filz und alte Seilschaften wegbügeln, wenn nicht diese bunte Bande, locker und leicht bekleidet, ohne Pickel und Übergewicht, durch die Bank flotte Girls respektive hochbegabte Boys. Sie alle verkehren, wenn sie denn die Hausaufgaben erledigt haben, mit stadtbekannten Pennern in einer Kneipe namens Kotz.
Anscheinend wollte der Autor endlich eine Schullektüre schreiben für das Land Brandenburg, die auch von den Knaben gelesen wird. Das steigert die Auflage und senkt das Durchschnittsalter der Leserschaft. Übrigens taucht im Roman kein einziger Hauptschüler auf. Pech für Pisa.

Dafür entschädigen uns Archetypen der griechischen Mythologie: Der Tote, die Zwillinge, das Labyrinth.
Der Verstorbene heißt Max Hornung, war zu Lebzeiten Regisseur einer Soap-Opera mit dem hintergründigen Titel „Oststadt“ und wird anfangs beerdigt. Er ist mit dem oben zitierten Wilhelm Hornung nicht verwandt oder verschwägert.
Ganz ohne Zwillinge geht die Chose nicht. Das inzestuöse Zwillingspaar, er ohne Warzen, sie ohne String, steht für die dunkle Seite der Macht, ein alchemistisches Motiv, dass sich bei C. G. Jung so nicht findet. Beide fühlen keinen Schmerz und dienen darum perversen Liebesspielen. (Sofern es zu einer Schulausgabe kommt, sollte hier ein wenig nachgebessert werden.)
Labyrinthische Gänge und Luftschutzkeller unterhöhlen die Potsdamer Parklandschaft. Leider muss ich unsere speläologisch interessierten LeserInnen darauf hinweisen, dass diese Höhlungen in der sehr empfehlenswerten „Potsdamer Nacht der Schlösser und Gärten“ nicht zugänglich sind, weil sie verwaltungstechnisch zur Kanalisation gehören.

Das Labyrinth ist eines der großen Geheimnisse der Welt. Der kretische Premier Minos ließ es einst von dem Ingenieur Dädalus errichten, um darin genmanipulierte Rinder zu halten. Es lag in Knossos und wurde von Sir Arthur Evans zu einem Palast umgebaut. Friedrich der Große schuf unter dem Park von Sanssouci eine Kopie nach dem berühmten Plan Palladios, den Casanova aus Venedig schmuggelte. Er bediente sich zugewanderter böhmischer Bergleute, die er in dem Dörfchen Becherowka ansiedelte. Wenn es im Park regnete, ging der Alte Fritz mit seinen Windspielen in den Gängen spazieren, nur von einem Diener mit einer Blendlaterne begleitet. Wer an der großen Fontäne kräftig auf den Boden stampft, hört das dumpfe Echo der Hohlräume.

Heute, so insinuiert Andreas Maier, werden in diesen gräulichen Gängen, verlotterten Grotten, muffigen Luftschutzkellern und makaberen Kavernen schwarzbunte Messen und sadomasochistische Rituale von Bulgaren und VeganerInnen zelebriert, schlimmer als die Polizei erlaubt. Und der berühmteste Einwohner Potsdams weiß anscheinend von alldem nichts. Wie sonst könnte Günther Jauch für die absurde Idee werben, in den Schulen das Fach Ethik wahlweise durch einen Unterricht in Folklore zu ersetzen?

Die wahrhaft Frommen kommen aus dem christlichen Osten. Dieser Teil der Personnage scheint einem Roman Dostojewskis entstiegen zu sein. Da ist der orthodoxe Mönch, der im Geruch der Heiligkeit steht, es gibt das hübsche aufmüpfige Mädchen, das Nihilismus mit Bulimie verwechselt und mindestens einen Gymnasiasten, der dem Bösen aus theoretischem Kalkül verfallen ist, aber auch den krebskranken Alkoholiker, den Gott liebt. Uns begegnen reichlich Russlanddeutsche, die doch von Protestanten abstammen, aber fleißig den orthodoxen Gottesdienst besuchen. Und nur sie finden den Seelenfrieden, eine unverhohlene Werbung für die russisch-orthodoxe Kirche. Die Kinder und Enkel der Sowjetunion treibt die Nostalgie oder das Heimweh, denn die russische Kirche missioniert nicht. Sie ist eine Nationalkirche. Dafür bleiben dem ehrwürdigen Moskauer Patriarchen Kyrill auch jene Peinlichkeiten erspart, mit denen unser Heiliger Vater in Rom zurzeit kämpft.

Der Roman beginnt mit einer Leiche und endet mit einem Schädelhirntrauma. Einige Handlungsstränge sind nur angedeutet und nicht zu Ende geführt, vieles bleibt vage. Vielleicht ist dem Autor ein wenig die Puste ausgegangen. So entstand ein Buch, das sich streckenweise liest wie die Ouvertüre zu einer Brandenbürger-Saga. Betrachten wir darum „Sanssouci“ als den ersten Teil einer Potsdamer Trilogie und warten interessiert auf die Bände „Cäcilienhof“ und „Ruinenberg“.