»Nur sehr naive Menschen glauben, Armut sei bloß ein leichtes Vergehen, das einem verziehen werde, sobald man zu Geld komme.«
(Celal Salik)
Reicher Mann liebt arme, schöne Frau, Frau verschwindet, Mann verzweifelt. Was sich wie der Plot eines mittleren Hollywood-Schinkens liest, ist der Kurzinhalt eines Gesellschaftsromans, den Orhan Pamuk unter dem Titel »Das Museum der Unschuld« in diesen Tagen der deutschen Öffentlichkeit präsentiert. Pamuks Sittengemälde der alten Reichen, der Istanbuler Bourgeoisie der Siebziger Jahre, sieht im Zentrum ein Liebespaar, ein Paar, das Abbild eines drohenden Untergangs ist, der sich erst in den letzten zehn Jahren deutlich zeigt: Auch wenn die alten Reichen Kultur um sich sammeln, akkumulieren die Neureichen doch das Geld.
Kemal gehört zu einer der weit verzweigten, alten und mächtigen Istanbuler Familien: Dort kennt man keine Kopftücher, die sind den unteren Schichten und denen vom Land vorbehalten, auch richtige Sorgen sind unbekannt. Geld steht immer zur Verfügung, man führt ein Haus in einem der besseren Stadtteile und besitzt eine weiteres, prächtiges auf den Prinzeninseln im Marmarameer. Vor allem aber ist man westlich kultiviert: Die Töchter gehen auf die Sorbonne, die Söhne kopieren die Werbekampagnen aus den USA für den eigenen Betrieb. Doch bei aller zur Schau gestellten Westlichkeit bleiben überkommene, feste Regeln, nach denen gehandelt wird: Man heiratet unter sich, vor der Ehe darf die Zärtlichkeit nicht zu weit gehen und die Hochzeit wird im Hilton sein.
Füsün hat die falschen Eltern: Die Mutter ist Schneiderin, der Vater war Lehrer, sie wohnen, aus der Obersicht der Oberschicht, im falschen Viertel. Und Füsün hat einen weiteren Makel. Noch als Schülerin nahm sie an einem Schönheitswettbewerb teil, das macht man nicht als anständiges Mädchen, sagt die Mutter von Kemal, die weitläufig mit Füsüns Mutter verwandt ist und sie hie und da als Schneiderin beschäftigt hat, allerdings nicht mehr, nachdem die ihrer Tochter diesen unsittlichen Wettbewerb gestattet hatte. Man stelle sich vor: Im schwarzen Badeanzug sind die Mädchen über Laufstege gegangen, fast alles war zu sehen. Aber was soll es Kemal kümmern, der wird sich bald verloben und Verlobung ist so gut wie Heirat.
Das ist das Dilemma der modernen Türkei und ihrer bis jüngst führenden Schicht: Man bewundert den Westen, kopiert ihn, manchmal bis zur Lächerlichkeit und steckt doch bis zu den Knien im alten Osmanischen Reich. Dieser Zwiespalt macht unsicher und vielleicht haben dieser Unsicherheit wegen die neuen Modernisierer, die gläubigen Provinzler aus Kapadokien, aus der Zentraltürkei, die Kommandohöhen in Ankara und anderswo besetzen können. Ihre Frauen tragen Kopftuch, sie sind selbstbewusste Türken, ihr Reichtum ist neu und ungehobelt, der Westen interessiert sie eher als Markt denn als kulturelles Vorbild. Aber beide Fraktionen der türkischen Bourgeoisie fahren, wie beruhigend, Mercedes.
Als Kemal auf Füsün trifft, als er seine besinnungslose Liebe entdeckt, fährt die Istanbuler jeunesse dorée noch schwere amerikanische Autos, der Raki fließt in Strömen, die Luxuskneipen der Stadt sind die Bühnen des Reichtums. Begonnen hatte es zwischen ihm und Füsün mit dem Reiz des ehelosen Beischlafs, man gibt sich modern, wohl wissend, dass die Jungfräulichkeit auf dem Heiratsmarkt nach wie vor ein wesentliches Gut ist. Doch seine Verlobung wartet auf ihn, mit jener anderen, schönen und gescheiten Frau, die aus der richtigen Schicht kommt und sich ihm versprochen hat und von der alle guten Familien wissen, dass sie seine Frau werden soll. Immer heftiger taumeln Füsün und Kemal umeinander, doch weil ihre Liebe besinnungs- aber nicht bedingungslos ist, löst Kemal sein Verlobungsversprechen ein. Gedacht hatte er, danach ging es so weiter, so wie es schon sein Vater und die anderen Väter gehalten hatten: Im Hinterzimmer die Liebe und im Salon die Ehe. Doch Füsün verschwindet, wird unerreichbar für ihn.
Was dem Kemal jetzt geschieht, kann wie eine Parabel auf den langsamen Untergang des alten Reichtums gelesen werden: Er löst seine Verlobung, macht sich zum Gespött seiner Umgebung und beginnt jene Dinge zu sammeln, die Füsün berührte oder auch nur gesehen hatte, Dinge die er einmal in das Museum der Unschuld verbringen wird, jenes Denkmal seiner Liebe. Auf der Bahn seiner Besessenheit verliert er Freunde, vernachlässigt seine Geschäfte und als seine Suche nach Füsün Erfolg hat, ist sie bereits mit einem anderen verheiratet. Kemal erniedrigt sich, acht lange Jahre, an 1593 Abenden, wie Kemal ausrechet, besucht er Füsün und ihre Familie , ohne dass Füsün ihn erhört, die Scheidung einreicht, um ihn zu heiraten. Ein quälendes Spiel beginnt: Die Regeln gibt die Konvention vor, der Schein wird aufrecht gehalten und als Füsün seinem Drängen nachgibt, besteht sie darauf, dass sie noch Jungfrau ist, nie habe sie mit ihrem Mann geschlafen, sie habe also in gewissem Sinne noch ihre Unschuld.
»Nur sehr naive Menschen glauben, Armut sei bloß ein leichtes Vergehen, das einem verziehen werde, sobald man zu Geld komme», so zitiert Pamuk einen seiner Figuren aus einem anderen Roman, den Kolumnisten Celal Salik. Natürlich ist Füsüns Vergehen arm zu sein auch nicht durch Kemals Geld auszugleichen. Und die Ansammlung toter Dinge würde, wenn Kemals Museum jemals Wirklichkeit werden könnte, nichts anderes sein, als das Denkmal einer falschen Unschuld: Einer gesellschaftlichen Lüge zur Aufrechterhaltung der Illusion, dass es ein richtiges Leben im falschen geben könne.