Es ist das Land Weißt-Du-Noch, für das Jutta Voigt einen bezaubernden Reiseführer geschrieben hat, das Land der 60-Jährigen und der drüber, ein Land, das viel hinter sich hat und nicht mehr so viel vor sich. Die Kunst der Voigt lag immer darin, im Alltäglichen das Besondere zu sehen. Mit ihrem Buch "Spätvorstellung" ist ihr eine Meisterleistung an Tapferkeit, Witz und Nachdenklichkeit gelungen. Sie kann mit sanften, zarten Fingern die Geschichten modellieren und derbe Stöße in die Rippen ihrer Personen zu therapeutischem Subtext erklären. Und vor allem: Sie ist selbst drin, in den Geschichten über das Älter-Werden, Älter-Sein und bei denen, die um den Tod wissen.

"Man wird nur einmal alt im Leben, es gibt keine Probe vor der Premiere", so beginnt die erste Geschichte im Buch über ein Paar, das gemeinsam alt geworden ist, dessen Leben Rituale entwickelt hat, die voller Spott über Rituale sind: "Es lebte ein Alter mit seiner Alten", lässt Jutta Vogt das erste Kapitel ausklingen, um schnell aus der Rührung in die Ironie zu fliehen, wenn sie erzählt wie die einst schöne, junge Frau alle Blicke auf sich gezogen hat, wie man vor ihrem Dekolleté stramm stand und wie sie nun nicht mehr wahrgenommen wird, um dann gelassen anzunehmen, dass es sich nur um einen Schichtwechsel handelt. So, als begönne jetzt ein neuer Arbeitsabschnitt.

Wie immer in den Büchern von Jutta Voigt sind es wirkliche Menschen, über die sie erzählt, sie hat sie gefunden. Aber ob wirklich einer gesagt hat, Beerdigungen hätten die Atmosphäre wie Theaterpremieren? Oder der Friedhofsgärtner, der auf die Frage, was er denn beruflich so mache, sagt, er habe zwölftausend Leute unter sich. Ob es ihn gibt? Kennt sie tatsächlich die Frau, die ihr beim Tür öffnen gesagt haben soll: "Am Morgen kommt die Schlachtigall und singt das Lied vom Tod"? Fraglos nicht erfunden sind jene Stücke aus der Ostbiografie der Voigt, die sie fest in den Text versenkt hat, wie Balken aus der Vergangenheit, die der Zukunft einen festen Halt geben. Da taucht der Mann auf, der wegen seines Stotterns nie "antifaschistischer Schutzwall" hat sagen können, statt dessen immer nur "Mauer" rausbrachte und deshalb zuzeiten Ärger bekam und auch der, der einst, vor der Wende, ein wichtiger "Formgestalter" war und im Westen nie und nimmer zum Designer hat aufsteigen können. Selbst die "Neulehrerin", eine ausgestorbene Gattung des DDR-Fortschritts, findet sich in den Erinnerungen der Autorin.

Fundstücke, überall Fundstücke: "In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei und aßen für drei", treibt aus dem alten Schlagerfluss plötzlich nach oben, und "Nur einmal blüht im Jahr der Mai, in fünfzig Jahren ist alles vorbei", bewahrt einen wie aus Schellack geschnitzten Otto Reutter vor dem Vergessen. Wie auch den Schorsch, der - immer mit der Ruhe - die ihm zugedachte SA-Uniform einfach an die Absender zurücksandte, der später aus seinem brennenden Haus nicht Jacke oder Hose rettete, sondern den Wasserkessel: "Er wollte sich nach dem Krieg eine schöne Tasse Kaffee kochen." All das ist in der eleganten, ein wenig spröden Sprache der Voigt aufgeschrieben, die den Text so schön süffig macht. Nur eimal ruckelt es, so wie früher die Schreibmaschinen ruckelten, wenn der Walzenwagen nicht sofort zurück fuhr, als sie das Wort "Alt-Achtundsechziger" verwendet, jenen Kampfbegriff, der diese Generation älter machen soll als sie ist, ihre Werte zum alten Eisen erklärt. Ach, Jutta, kennste auch Jung-Achtundsechziger? Doch schon bald folgt eine dichte Geschichte über einen Achtundsechziger ohne "alt", die in diesem klugen Satz mündet: "Es wäre trostlos, im Alter ohne eine dritte Sache zu sein, ohne Ideale."

Gegen Ende des Buchs tritt erneut das Paar vom Anfang auf und streitet sich darüber, wer denn zuerst sterben dürfe. Und als der Mann meint, wenn denn die Frau als erste stürbe, wolle er gleich hinterher, da sagt sie: "Machst du nicht, es soll einer da sein, der an mich denkt, so!" So heiter kann ein Buch vom Altern sein, als wäre Tucholskys "Rheinsberg" erst jetzt kurz vor der Rente.